GRUSSWORT
von Henryk M. Broder
Wer die Ereignisse der letzten drei Jahre aktiv – im Beruf – oder auch nur passiv – im Fernsehen – verfolgt hat, der kann nur zu einem Schluss kommen: Die Bundesrepublik ist ein Irrenhaus.
Historiker kommender Generationen werden alle Hände voll zu tun haben, um herauszufinden, wie es so weit kommen konnte. Wie ein politisch zwar träges aber alles in allem doch gut funktionierendes föderales System dermaßen enteiert werden konnte, dass alle relevanten Entscheidungen nur noch an einem Ort – in Berlin, im Bundeskanzleramt, im sogenannten Koalitionsausschuss, einer Regierung in der Regierung – getroffen wurden, in endlosen Sitzungen, die bis zum Morgengrauen dauerten, als ob die Teilnehmer tagsüber nicht zum Regieren kämen, weil sie sich um Pflegefälle innerhalb ihrer Familien kümmern müssten.
Wie es dazu kommen konnte, dass zwei Tage vor dem großen Fest der nationalen Einheit 2018 ein „Umsturzversuch“ bekannt gegeben wurde, den acht rechtsradikale Irre geplant und schon mal in einem Chemnitzer Gartenlokal geübt hatten. Unter Umgehung aller Regeln zur Unschuldsvermutung, die selbst für jene gelten, die auf frischer Tat beim Abfackeln von parkenden Autos erwischt werden, wurde der Eindruck vermittelt, als wäre die Bundesrepublik in letzter Minute vor einem Staatsreich bewahrt worden.
Wie es dazu kommen konnte, dass die Dieselfrage zu einer Angelegenheit von Leben oder Tod hochgefahren wurde, während die „innere Sicherheit“ und die infolge einer hysterischen „Willkommenskultur“ entstandenen Probleme als „gefühlte Gefahren“ verharmlost wurden.
Jeder Tag, den der Herr uns schenkt, beweist aufs Neue die Richtigkeit einer Sottise von Oskar Panizza. „Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.“
Ich vermute, der Satz steht, in eine Tafel aus Marmor gemeißelt, auf dem Schreibtisch von Angela Merkel und auch auf den Karten, die sie bei ihren Reisen durch die Republik signiert. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hat.
Es bleibt nur ein Trost: Nichts bleibt unbemerkt. Es wird alles protokolliert, von den Anmoderationen Claus Klebers im heute journal bis zu den Reden der Kanzlerin und ihrer Klone. Historiker kommender Generationen werden genug Material vorfinden, um sich ein Bild machen zu können, wie die drittgrößte Industrienation der Welt, der Weltmeister der Herzen, die Brutstätte des kategorischen Imperativs und des Ehegattensplittings sich so weit von der Wirklichkeit entfernen konnte, bis nur noch das Reinheitsgebot übrig blieb, wonach Bier aus Hopfen, Malz, Hefe und Wasser hergestellt werden darf.
Zu den Materialien, die den Historikern dabei helfen werden, gehört auch dieses Buch. Markus Vahlefeld hat es mit eiskalter Glut geschrieben. Mögen sich die Richtigen daran die Finger verbrennen.
Henryk M. Broder, Berlin im Oktober 2018
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DEUTSCHLAND AUF DER COUCH
Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes ›Humanitätsduselei‹ kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre.
Franz Werfel 1946 in: Stern der Ungeborenen
Die Grenzöffnung für alle vom Spätsommer 2015 markiert für Deutschland einen ähnlich epochalen Einschnitt wie der November 1989, als ebenfalls eine Grenze fiel. Wuchs damals zusammen, was zusammengehörte, so brach 2015 das Land erneut entzwei.
Die physischen Grenzen, die man 1989 noch jubelnd niedergerissen hatte, wurden 2015 mit atemberaubender Rigidität imaginär wieder hochgezogen. Dass der neue alte Grenzverlauf nun abermals den scheinbar progressiven Westen vom dunkel-reaktionären Osten trennte, diese Mär glaubten und glauben nur diejenigen, die am neudeutschen Narrativ des „braunen Sachsens“ und „Dunkeldeutschlands“ mitstrickten, um ihren ideologischen Unter- und Überbau zu tarnen. In Wahrheit verläuft der neue Gesinnungs-Grenzverlauf seit 2015 zwischen den Gläubigen einer post-nationalen „One-World“-Ideologie und den besorgten Vertretern einer nationalstaatlichen Identität. Wer auf letztere pochte und sie weiterhin zu bewahren trachtet, findet sich schnell in der Ecke der Ressentiment-geladenen sogenannten „Abgehängten“ wieder.
Auf eine nationalstaatliche Identität zu bestehen, mutet vielen Deutschen in der Tat wie aus der Zeit gefallen an. Die intellektuellen Eliten Westdeutschlands hatten sich schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von dem Konzept eines Nationalstaats verabschiedet, standen doch bereits damals Begrifflichkeiten wie Volk oder Nation unter dem Verdacht einer faschistoiden Weltanschauung. Der westdeutsche Zeitgeist, der sich im Härtebad aus 1968er-Mythos, Studentenunruhen, Straßenschlachten, RAF, maoistischen, stalinistischen und anderen die individuelle Freiheit abschaffen wollenden Splittergruppen herausgebildet hatte, galt fürderhin als einzig zukunftsfähig. Progressiv und weltoffen war nunmehr, anstatt von einem Volk oder einer Volksgemeinschaft vom ver-gleichsweise unverdächtig anmutenden Terminus technicus der „Gesellschaft“ zu sprechen.
Eine Gesellschaft definiert sich aus Funktionsweisen, demgegenüber gründet und eint eine Gemeinschaft deren Homogenität. Diese Homogenität galt jedoch den Westdeutschen, zu deren zwingendem Selbstverständnis es gehört, aus der Geschichte gelernt zu haben, durch den Nationalsozialismus als nachhaltig kontaminiert. Um künftig also niemals wieder einer faschistischen Weltanschauung anheimfallen zu können, hatte sich das deutsche Volk zu einer eigenschaftslos funktionierenden Gesellschaft zu läutern.
Zeitgleich hatte man östlich des antifaschistischen Schutzwalls den von Honecker & Co zwangsbetreuten Traum einer sozialistischen Internationale zu träumen, welcher, das war das erklärte Plansoll, bald schon die ganze Weltgemeinschaft umfassen sollte. Dass die Menschen östlich der Elbe diese Zwangsbeglückung irgendwann satt hatten und die herrschende Klasse zum Teufel jagten, dürfte für einen nicht unbeträchtlichen Teil der westdeutschen Eliten die größte Schmach gewesen sein, hatte sich doch nach dem erfolg-reichen Marsch durch die Institutionen eine neue Klassenelite in Westdeutschland etabliert, die aus ihren Sympathien für die große sozialistische Internationale keinen Hehl mehr machen musste.
Wirft man einen Blick auf das Kabinett I (1998-2002) und das Kabinett II (2002-2005) von Gerhard Schröder, so trifft man viele bekannte Gesichter aus sozialistischen, maoistischen oder stalinistischen Gruppen wieder. Der gewalttätige RAF-Sympathisant und spätere grüne Außenminister Joschka Fischer dürfte der Prominenteste sein. Aber auch seine Parteikollegen Jürgen Trittin (Kommunistischer Bund, später Umweltminister), Renate Künast (vom Verfassungsschutz beobachtet, später Landwirtschaftsministerin) oder Andrea Fischer (Gruppe Internationaler Marxisten, später Gesundheitsministerin) reihen sich in die Phalanx der grünen Sozialisten nahtlos ein.
Dass der Traum vom Sozialismus jedoch nicht nur ein grüner ist, machen auch viele SPD-Kabinettsmitglieder unter Schröder deutlich: Ulla Schmidt (Kommunistischer Bund Westdeutschlands, später Gesundheitsministerin), Brigitte Zypries (gemeinsam mit dem amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in der Redaktion des DKP-nahen Pahl-Rugenstein Verlags, später Justizministerin) oder Renate Schmidt, die eine Ortsgruppe der Sozialistischen Jugend Deutschlands gründete und später Familienministerin wurde. Alle diese Namen betreffen ausschließlich die erste Reihe an Ministern. Was auf den unteren Ebenen an Staatssekretären, Ministerialdirektoren, -räten und -dirigenten und schließlich in Bundesämtern und Universitäten durch das Fegefeuer des sozialistischen Traums ging, füllt ganze Bibliotheken.
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