Im Klartext: selbst wenn man nur die Hochrisikogruppe der jungen Männer – also die „Wölfe“ – miteinander vergleicht, werden über das Asylsystem Zugewanderte sechsmal so oft straffällig wie Deutsche. Man kann das als erschütternd ansehen, dass Menschen, die in einem Land Schutz suchen, dermaßen überproportional straffällig werden, oder man kann das für logisch halten, da Menschen aus zerfallenden Staatsgebilden anders mit Konflikten umzugehen gelernt haben als Deutsche. Nur gilt auch hier wieder: God is in the details. Denn es sind vor allem die aus dem Bürgerkriegsgebiet geflohenen Syrer, die auffallend weniger straffällig werden als beispielsweise die Zugewanderten aus den Maghreb-Staaten, also aus Algerien, Tunesien und Marokko, was interessanterweise Länder sind, in die sehr viele Deutsche gerne reisen, um ihren Urlaub zu verbringen. Daher lautet die so simple wie naheliegende Frage: Warum wurden diese Menschen überhaupt erst ins Land gelassen? Und warum werden sie nicht, nachdem sie einmal polizeibekannt wurden, umgehend abgeschoben? Ein Staat, der seine entwaffneten Bürger den Wölfen zum Frass vorwirft, hat ein erhebliches Legitimationsproblem.
Das Legitimationsproblem wird ja noch dadurch befeuert, dass wenige Tage, bevor die Polizeiliche Kriminalstatistik vorgestellt wurde, die verantwortlichen Stellen im Bundesinnenministerium nicht müde wurden zu betonen, dass die kommende Statistik einen großartigen Rückgang der Kriminalitätszahlen beweisen würde. Und natürlich stimmten die wohlmeinenden Medien in diesen Chor mit ein. Die Erleichterung war förmlich mit Händen zu greifen. Nur: die Zahlen geben zu Entwarnung alles anderes als Anlass – und so ähnelt auch dies mediale Hurra eher einer kollektiven Verschaukelung.
Was stimmt: die Gesamtzahlen für 2017 sind rückläufig. Was jedoch auch stimmt: das geht fast ausschließlich auf die zurückgehende Zahl von Wohnungseinbrüchen zurück. Hier zahlten sich die steuerbefreienden Maßnahmen der Bundesregierung zur Wohnungssicherheit und intensivierte polizeiliche Ermittlungsarbeit aus. Man kann also sagen, dass im Raum des Privaten in der Tat die Kriminalitätszahlen rückläufig sind. Nur ist eben auch festzuhalten, dass die Gewalt im öffentlichen Raum weiter zugenommen hat.
Abgesagte Straßenfeste, die berühmt-berüchtigten Merkelpoller auf Weihnachtsmärkten, die Rückkehr des Messers in den öffentlichen Raum, Tätlichkeiten gegen Mitarbeiter in Job-Centern, Angriffe auf Krankenwagen, Sanitäter, Ärzte, Krankenhauspersonal, schließlich die Verwilderung der Hauptbahnhöfe – bei all den zurückgegangenen Kriminalitätszahlen ist das größte Rätsel für Politik und Medien: das gesunkene Sicherheitsempfinden der Bürger. Oder um einen Satz von Joseph Beuys zu variieren: Die Mysterien scheinen auf den Hauptbahnhöfen stattzufinden. Und auf den Straßenfesten und Weihnachtsmärkten. Und in den Parks und Grünanlagen.
Die berühmte Armlänge Abstand, die die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker nach den Silvesterunruhen 2015/16 empfahl, oder Hinweise der Polizei an Joggerinnen, bestimmte Parks zu bestimmten Uhrzeiten zu meiden und am besten nicht alleine zu laufen, führen bei den Medien regelmäßig dazu, die Sorgen und Ängste der Bürger ins Lächerliche zu ziehen. Wie von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchungen diverser Stiftungen jederzeit beweisen könnten, entspricht nämlich das rapide gesunkene Sicherheitsempfinden der Bürger ganz und gar nicht den Tatsachen. Von der Leiter zu fallen oder bei einem Autounfall zu sterben, sei wahrscheinlicher.
Rolf Peter Sieferle analysierte diesen Zustand bereits in seinem postum erschienen kleinen Bändchen „Das
Migrationsproblem“: „Die letzten Menschen werden erstaunt sein, wie viele Alltagskonflikte plötzlich mit ungewohnter Gewalt ausgetragen werden (...) Eine Welle unfassbarer blutiger Gewalt überspült die letzten Menschen, die von einer Vertreibung aus ihrem Rentnerparadies bedroht sind. Sie werden die Verunsicherung in innere Konfliktlinien transformieren, sie werden in den eigenen Reihen Feinde identifizieren, die leicht zu bekämpfen sind, da sie aus dem gleichen Holz geschnitzt sind wie sie selbst.“
Genau dieses Muster der Transformation der Verunsicherung in innere Konfliktlinien lag dem Umgang mit dem August-
Toten im Chemnitz des Jahres 2018 zugrunde. Da wird ein Familienvater auf einem Straßenfest mutmaßlich von einem wegen Gewaltdelikten polizeibekannten Migranten real totgestochen, und Kanzlerin und Kanzlerinnensprecher ereifern sich über vermeintliche Hetzjagden gegen Ausländer. Und als der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz darauf hinweist, dass hier als regierungsoffizieller Beweis ein Sekunden-Mitschnitt der für ihre Seriosität nicht gerade bekannten „Antifa-Zeckenbiss“ gedient habe, muss er sein Amt aufgeben, ganz so, als wären hohe Beamte nicht mehr auf die Verfassung sondern auf die Führerin höchstselbst vereidigt. Währenddessen der furchtlose Bundespräsident Steinmeier den Untertanen ein Gratiskonzert „gegen Rechts“ in Chemnitz empfiehlt, auf dem Bands auftreten, die „Gewalt gegen Bullen“ besingen und „Deutschland ist scheiße, Deutschland ist Dreck“ brüllen.
Selbstverständlich wusste die Politik bereits 2015, was sie anrichten würde, und es gibt verlässliche Hinweise darauf, dass in der Bundesregierung die offenen Grenzen genauso kontrovers diskutiert wurden wie in der deutschen Bevölkerung. Immerhin schien die Schließung der deutschen Außengrenzen nur einen Wimpernschlag entfernt gewesen zu sein. Hätte Deutschland statt eines aus dem 19. Jahrhundert gefallenen preußischen Untertans als Innenminister einen beherzten und mutigen Querkopf gehabt, der sich gegen die Fahrlässigkeit seiner Kanzlerin gestellt hätte, viele Verwerfungen wären diesem Land erspart geblieben. So hoch man Thomas de Maizière für seine besonnene und loyale Art auch wertschätzen kann, rückblickend stellt er die größte denkbare Fehlbesetzung eines Innenministers dar, als im September 2015 die Entscheidung innerhalb der Bundesregierung, die Grenzen nach zweiwöchiger Offenheitsparty zu schließen, bereits gefallen war. Er mag mit seinen „rechtlichen Bedenken“ (vergl. Robin Alexander: Die Getriebenen), die dazu führten, die Grenzen dann doch offen zu lassen, die Kanzlerschaft Angela Merkels gerettet haben, seinem Land hat er damit einen Bärendienst erwiesen.
Dass die politische Klasse im September 2015 ob der Zehntausende, die sich täglich über die deutschen Grenzen schoben, in Panik geriet, darf unterstellt werden. Wie aus österreichischen Diplomatenkreisen durchsickerte, war jener Plan Angela Merkels, ausgerechnet und unbedingt mit der Türkei ein Abkommen zu schließen, der reinen Verzweiflung geschuldet. Wie es heißt, wollte die deutsche Bundeskanzlerin ein Abkommen mit dem klar erklärten Ziel, dass „gar niemand mehr hereinkommen kann“ (DER STANDARD vom 12.08.2018).
Ein bereits zur Jahreswende 2015/2016 von EU-Kommissar Frans Timmermans und Ratspräsident Donald Tusk ausgearbeiteter Vorschlag reichte der Kanzlerin bei weitem nicht aus, da er die verpflichtende Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei nicht vorsah.
„Der Timmermans-Tusk-Ansatz hatte aus Berliner Sicht den Nachteil, dass er die Syrer nicht umfasst hätte. Und Merkel wollte 100 Prozent zudrehen, während sie international die humanitäre Heldin spielte“, berichtet ein diplomatischer Insider der österreichischen Tageszeitung DER STANDARD. Drei Milliarden Euro mehr als den Timmermans-Tusk-Vorschlag ließ sich Deutschland den Türkei-Deal im März 2016 schließlich kosten (der der Öffentlichkeit als ein europäischer untergejubelt wurde), so viel waren Angela Merkel die verpflichtenden Rückführungen von Flüchtlingen wie auch der Bau eines Grenzzauns zwischen Syrien und der Türkei wert. Kurzum: die Verzweiflung und Verstörung der Bundesregierung über die weder abreißenden noch wieder abreisen wollenden Flüchtlingsströme wird sehr groß gewesen sein – womöglich größer, als wir es je erfahren werden.
Читать дальше