Wahid blickte fasziniert um sich herum.
„Das ist dermaßen kompliziert? Dann ist es also doch wahr, dass hierbei, mathematisch betrachtet, eine Unmenge an Parametern und Stoffwechselzyklen zu beachten ist, die sich gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängig sind. Ich habe in einem Artikel in der Zeitschrift ,Nature’ darüber gelesen.”
„Dann dürftest du vielleicht auch schon mal von einem Projekt mit dem Namen ,Biosphäre II’ auf deinem Planeten gehört haben. Vor mehr als 60 Jahren wurden in den USA einige große Kunststoffhalbkugeln in der Wüste von Arizona errichtet und mit diversen Pflanzen bestückt, um ein von der Umgebung unabhängiges, selbsttragendes Ökosystem zu etablieren. Einige Menschen, die darin isoliert wurden, bekamen jedoch bald erhebliche Schwierigkeiten, weil nach kurzer Zeit die Zusammensetzung der Luft nicht stimmte, Pflanzen eingingen oder von anderen überwuchert wurden und damit der gesamte Stoffkreislauf durcheinandergeriet. Das Projekt endete schließlich in einem Fiasko, das viel Geld verschlungen hatte. Man hat das Projekt nach etwa zwei Jahren eingestellt, da man auf der Erde nicht gewohnt ist, in Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden zu denken.”
Sie schlenderten weiter auf verschlungenen Wegen unter riesenhaften baumähnlichen Gewächsen umher. Wahid beobachtete gebannt bunte Schmetterlinge, Insekten aller Art, aber auch ungezählte Lebensformen, die er noch nie auf Abbildungen gesehen hatte. Seine Neugierde war offenbar grenzenlos, denn er bestürmte Knud fortwährend mit botanischen und zoologischen Fragen. Plötzlich zeigte er erstaunt auf einige, vier Meter im Durchschnitt messende, aus der Ferne an Quallen erinnernde, fliegende Objekte.
Knuds Blick folgte dem ausgestreckten Arm.
„Das sind so genannte Kwarrtrg vom Planeten Manarroh V. Sie dienen dazu, Faulgase, den Geruch von niedrigkettigen Carbonsäuren - Butter- und Valeriansäure sind dir vielleicht in diesem Zusammenhang geläufig - und andere unappetitliche Ausdünstungen verschiedener Besatzungsmitglieder in ungiftige und natürlich auch geruchlose Verbindungen zu überführen. Zu viele dieser Wesen darf es in diesem künstlichen Biotop jedoch nicht geben, da sie sonst verhungern würden. Sie bauen beispielsweise auch Mercaptane und Schwefelwasserstoff ab, die am Ende der Fleischverdauung entstehen.”
Vereinzelt begegneten sie einigen humanoiden Besatzungsmitgliedern, die auch ihre Freizeit in dieser künstlich geschaffenen Anlage genossen.
Der Weg führte um einen künstlichen Felsen herum. Wahid erinnerte die Landschaft an eine Miniaturausgabe der Appalachen im Osten der USA. Plötzlich standen sie gegenüber einem etwa 50 Meter hohen und 2 Meter breiten, schäumenden Wasserfall, der mit lautem Rauschen in drei Stufen von einer künstlichen Hochebene hinabstürzte. Das Plateau, auf dem sich der Quellbereich des Gewässers irgendwo befinden musste war, soweit man das von hier unten erkennen konnte, ebenfalls dicht bewachsen.
Das Wasser donnerte in einen schätzungsweise 75 Meter langen und 20 Meter breiten Teich. Dessen unregelmäßig geformter Uferbereich war mit allerlei Grünpflanzen, wasserliebendem Schilf und seltsamen knubbeligen Gebilden, aus denen in rhythmischen Abständen ein Schwapp Wassers pulsierend herausschoss, und die an Unterwasserschwämme in irdischen Ozeanen erinnerten, bewachsen.
„Dort liegt die ,höchste’ Stelle in diesem Refugium. Auf der ,Hochebene’, wo diese Kaskade entspringt, befinden sich ausgedehnte Sumpfflächen, die dicht mit Feuchtigkeit liebenden Pflanzen, die zudem eine hohe Reinigungswirkung im Wasser entfalten, bewachsen sind. Auf der Erde wären dies zum Beispiel Schilf und Rohrkolben. Sie sind sehr wichtig für die Selbstreinigung des künstlichen Flusses. Auch einige Moorgebiete gibt es dort. Deren Pflanzengesellschaften müssen aber sorgfältig vor übermäßiger Düngung und der damit verbundenen Eutrophierung bewahrt werden. Das Wasser, das von dort oben herabstürzt, hat eine ausgezeichnete Qualität und schmeckt herrlich erfrischend. Du kannst es gleich dort unten kosten.”
„Und was stellen diese eigenartigen Lebensformen dar, die das Wasser regelmäßig hinaus pressen? Erfüllen sie vielleicht ebenfalls irgendeine Reinigungsfunktion?”
„Sie heißen Srotok und stammen von Gambilon III, der Heimatwelt einer Rasse, die sich Sradogoner nennen. Diese merkwürdigen Lebensformen entfernen bestimmte, für Humanoide giftige Stoffwechselprodukte aus dem Wasser. Aber die da unten müssen mit den letzten, spärlichen Resten dieser Stoffe auskommen, die die Srotokkolonien oben auf der Hochebene ihnen noch zum Verwerten übriggelassen haben. Daher ist das kühle Nass völlig frei von Schadstoffen und kann unbesorgt genossen werden.”
Von dem leicht erhöht gelegenen Ort, an dem sie standen, sah Wahid, dass dieser Garten bis ins Detail geplant war. Er bewunderte den langgezogenen, halbrunden Teich, in dem das Wasser aufschäumte und dabei Gischtwolken erzeugte, deren Tröpfchen sich in den Haaren der Besucher verfingen, und so vergängliche Diademe aus funkelnden Juwelen erzeugten.
Am Ufer standen mehrere Dutzend Sitzbänke, aufsteigend angeordnet wie in einem antiken, irdischen Amphitheater. Künstliche Gestelle, halbbogenförmig über die Ruhegelegenheiten gebaut, und durch wuchernde Rankpflanzen beinahe erdrückt, vermittelten so den Erholung suchenden Crewmitgliedern das Gefühl von Geborgenheit. Viele Gäste waren im Moment nicht zu sehen, es herrschte nämlich gerade der Wechsel zur nächsten Zehnstundenschicht.
„Erst nachdem die Besatzungsmitglieder, die gerade Dienst hatten, mit dem Essen fertig sind, kommen hier wieder mehr Besucher her. Sollten wir uns nicht mal ein wenig setzen?”, meinte Knud zu Wahid, nachdem er diesem die Gelegenheit gegeben hatte, eine Viertelstunde lang das fremdartige Panorama in sich aufzunehmen.
Der Professor nickte zustimmend. Er verspürte Durst. Als sie sich dem Teich näherten, bückte sich der Professor, schöpfte mit einer Hand etwas Wasser, führte die aus seinen Fingern geformte lebende Schale an seinen Mund und trank es.
„Hmmmhh, unglaublich belebend und köstlich”, stellte er fest.
Nachdem sein Durst gestillt war, liefen sie um den Rand der Wasserfläche herum.
Wahid bemerkte zu beiden Seiten des Teichs Eingänge in der künstlichen Steilwand. Vermutlich waren es weitere Zugänge zum Lift- und Transportsystem des Schiffes.
Knud deutete auf eine mit dichten, verschlungenen, grünrot gebänderten Ranken bewachsene Laube, deren Bewuchs fast 30 Zentimeter große, tiefrote Blüten gebildet hatte. Diese verströmten dabei einen fruchtigen, aromatischen und gleichzeitig betörenden Duft. Sie setzten sich auf eine überaus bequeme Suspensorenbank, die so breit war, dass auch mehrere Personen oder auch besonders große Lebewesen Platz fanden. Nur ein schmaler Ausschnitt des herabdonnernden Wassers und des Teiches war zu sehen. Das dichte Pflanzengewand verhinderte, dass man neugierigen Blicken ausgesetzt war.
Minutenlang schwiegen sie. Sie genossen das gleichmäßige, tiefe Vibrieren der hinabstürzenden Wassermassen, dessen Infraschallanteil selbst das Zwerchfell in Schwingungen versetzte und die kühle, erfrischende Würze der Luft, durchsetzt mit fremdartigen Aromen unbekannter Lebensformen. Schließlich stellte Wahid die Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit, besonders nach dem Bericht über das geheime Forschungsprojekt in Schweden, quälte, da es ihm einfach als zu phantastisch erschien:
„Knud, wie alt bist du eigentlich wirklich? Bei deinem Bericht sind dir möglicherweise Rechenfehler unterlaufen.”
Knud sah ihn mit seinen dunklen Augen unbewegt und durchdringend an, so dass für den Professor an seiner nachfolgenden Feststellung nicht der geringste Zweifel bestehen konnte:
„In irdischen Jahren gemessen: 153 Jahre.”
Читать дальше