„Computer: Arboretum”, kommandierte Knud.
Der Aufzug nahm Fahrt auf und der Professor merkte, dass die Beschleunigungskraft, die zunächst senkrecht nach unten auf ihn wirkte, plötzlich in einem Winkel von 45 Grad auftrat.
„Das ist ungewöhnlich. Ich verstehe nicht, dass in einem Fahrstuhl Kräfte aus einer solch merkwürdigen Richtung einwirken. Es sei denn, wir beschreiben Kurven. Außerdem: Was bedeutet hier Arboretum und warum wirkt hier ununterbrochen die Schwerkraft? Bei den irdischen Raumschiffen erfahren die Astronauten doch die ganze Zeit Schwerelosigkeit.”
„Du beobachtest deine Umgebung schon ziemlich genau. Wir fahren ins Zentrum des Schiffes, über Vakuumröhren, in denen die Fahrkabinen fast reibungsfrei auf Magnetfeldern gleiten. Dabei müssen sie einen Winkel von 90 Grad beschreiben, um von dem äußeren Habitatbereich in das Innere der Intrepid zu gelangen. An unzähligen Stellen im Schiff befinden sich so genannte Gravitonenemitter und -absorber, die künstliche Schwerkraft erzeugen, da es für die menschliche Physiologie sehr schädlich ist, über längere Zeit der Schwerelosigkeit ausgesetzt zu sein. Den damit verbundenen Knochen- und Muskelabbau, der schon bei bemannten Missionen auf der Erde als Hauptproblem ausgemacht wurde, können auch wir nicht verhindern. So musste eine technische Lösung gefunden werden, die auch das Reisen über große Distanzen ermöglicht, die viel Zeit kosten.
Und was das Arboretum betrifft, um auf deine andere Frage zurückzukommen: Fast alle Lebewesen produzieren Kohlendioxyd und Exkremente, die entsorgt, ja besser noch, zu recyceln sind. Diese Stoffe sollten dann wieder zur Nahrungsmittelproduktion eingesetzt werden, denn Lebensmittel müssen frisch sein. Obwohl wir solch einen gewaltigen technischen Vorsprung gegenüber der irdischen Zivilisation haben, können wir die Physiologie der Schiffscrew, was ihr Geschmacksempfinden angeht, auf Dauer nicht an der Nase herumführen. Untersuchungen zeigten, dass die Besatzungsmitglieder am liebsten ihre gewohnten Nahrungsmittel genießen, die sie von ihren Heimatwelten her kennen.
Viele Jahre haben wir es zu Beginn der interstellaren Raumreisen mit Konzentraten, getrockneten Zutaten und Ähnlichem probiert: Die Leistungsfähigkeit der Crew konnte so auf Dauer nicht gewährleistet werden. Daher führt inzwischen jedes Raumschiff, das Monate oder gar Jahre im Einsatz ist, eine Art riesiges Gewächshaus mit sich. Es dient daher vor allem zur Sauerstoffproduktion, zur kontinuierlichen Versorgung der Mannschaft mit frischen Nahrungsmitteln sowie der Erholung, aber auch, um Abstand von der ganzen Technik zu gewinnen und ein gewisses Naturerlebnis zu simulieren. Natürlich kann dies eine echte Ökosphäre eines Planeten nicht ersetzen, aber es erfüllt seinen vorgesehenen Zweck.”
Die Kabine verringerte ihre Geschwindigkeit. Sanft wurden sie gegen die Fahrtrichtung abgebremst.
„Arboretum - Bestimmungsort erreicht”, meldete sich die weiche Computerstimme.
Die Kabinentür öffnete sich. Sie traten durch sie hindurch und standen mitten in einem dichten, feuchtwarmen Urwald aus Palmen, Schlingpflanzen, Farnen und allerlei anderen Baum- und Pflanzenarten, die der Professor noch nie gesehen hatte. Auch Tiergeräusche waren zu hören - weit, weit weg - sowie das Tröpfeln von Wasser. Sie sahen nach oben und stellten fest, dass sie sich an der Außenwand eines gewaltigen, kugelförmigen Raumes befanden. Über ihnen, im Abstand von vielleicht fünf Kilometern, konnten sie den Wald über sich hängen sehen. Jedoch verdeckte ein gewaltiges, rundes Objekt, das sich exakt in der Mitte der Kugelschale befand, den direkten Blick auf die andere Seite.
„Was ist denn das?”, fragte der Professor erstaunt.
„Ich hatte dir doch von der künstlichen Schwerkraft erzählt. Nun, um diesen Innenraum optimal auszunutzen, befinden sich ringsherum unter dem Pflanzenbewuchs die Generatoren, die die Gravitonen aussenden. Die Kugel da oben ist der so genannte Gravitonenabsorber, denn sonst würden sich die Schwerefelder gegenseitig überlagern und sich in ihren Wirkungen auf unsinnige Weise verstärken. Ferner dient sie gleichzeitig, wie man sieht, als Beleuchtungsquelle, damit überhaupt Photosynthese und verwandte biochemische Prozesse stattfinden können. Drittens besitzt sie Sprühdüsen, damit die Pflanzen auch hinreichend bewässert werden. Der Fuß dieses Apparats steht konstruktionstechnisch am ,tiefsten’ Punkt des ganzen Raumes. Alle Bäche und strömenden Gewässer fließen in Richtung des Fußes dieser Kugel, der sich in der Mitte des einzigen größeren Sees befindet. Das Wasser wird darin nach ,oben’ befördert und wiederum im Raum gleichmäßig als Regen versprüht. Ein anderer Teil des Wasser wird im Wasserversorgungssystem des Schiffes verteilt und dient als Trinkwasser.”
„Und was ist mit den Exkrementen und den anderen Stoffwechselprodukten?”, fragte Wahid.
„Auch gerade jetzt, wo wir im Arboretum stehen, wird dieses Problem von der Lebensgemeinschaft dieses Ökosystems nahezu perfekt bewältigt.”
Der Professor sah ihn entsetzt an und wollte schon zum Aufzug zurück hasten, aber Knud beruhigte ihn.
„Keine Sorge, die Schmutzwässer, oder wie es auf der Erde heißt - die Fäkalien - regnen nicht auf uns herab. Diese Stoffe werden durch ein weiteres Transportsystem direkt zu den Wurzeln der Pflanzen oder durch Düsen und kleine Austrittsöffnungen auf den Boden geleitet, wo Mikroorganismen mit ihrer Arbeit beginnen. Ein Teil der Ausscheidungen wird auch noch biochemisch vorbehandelt, um Methan und langkettige Kohlenwasserstoffe zu gewinnen. Daraus können dann beispielsweise auf bioenzymatischem Wege Medikamente, Farben oder bestimmte Kunststoffe gewonnen werden, die dann aber auch wieder biologisch abbaubar sein müssen.
Denn diese interdisziplinäre Herangehensweise ist überdies ein sehr interessantes wissenschaftliches Forschungsgebiet: Alle Produkte, die es in unserer Wirtschaft gibt, müssen sich vollständig wiederverwerten lassen. Es ist strengstens verboten, Planeten als Müllhalden zu missbrauchen, die Natur zu schädigen oder gar Ökosysteme zu vernichten.
Insgesamt wird somit auch der Innenraum an Bord dieses Schiffes optimal ausgenutzt.”
Sie gingen weiter. Wahid schaute fasziniert auf die unzähligen, fremdartigen Lebensformen, die er zu sehen bekam. Immer wieder blieb er neugierig stehen, während Knud ihm die unterschiedlichen Spezies erklärte.
Das Gelände stieg an. In der Ferne war leises Rauschen fließenden Wassers zu vernehmen, das allmählich, je weiter sie unter dem dichten Bewuchs entlang schlenderten, lauter wurde.
Knud erläuterte:
„Es sind, nebenbei bemerkt, nicht alles irdische Pflanzen. Sie stellen sogar nur eine Minderheit aller Arten in diesem Raum dar. Was du hier siehst, ist eine perfekt angepasste Kultur aus allen möglichen Organismen verschiedener Planeten, um einen optimalen Ertrag an Nährstoffen und atmosphärischen Gasen für die Besatzung zu erhalten.
Die Lösung für das Problem geschlossener Stoffkreisläufe ist übrigens eine der kompliziertesten technologischen Herausforderungen gewesen, die jemals von der Föderalen Akademie der Wissenschaften zu bearbeiten war: Auf solch kleinem Raum ein perfektes autonomes biochemisches Regelsystem zu etablieren, das überdies noch gegenüber äußeren Störungen stabil ist. Fast alle Rassen haben nämlich eine andere Physiologie und produzieren dann natürlich auch Exkremente oder sonstige Ausscheidungsprodukte unterschiedlichster chemischer Zusammensetzung.
Wenn man nun beispielsweise mehr Menschen an Bord der Intrepid arbeiten ließe, muss dieses biologische System in der Lage sein, mit einer größeren Menge menschlicher Fäkalien fertig zu werden. Die gleiche Herausforderung stellt sich natürlich auch im Hinblick auf andere Spezies. Erst vor etwas über 10 000 Jahren nach der Staatsgründung wurde das Problem endgültig gelöst. Somit stecken einige tausend Jahre Forschung in diesem autarken Recyclingsystem, damit es störungsfrei und selbsterhaltend funktioniert. Aber auch heutzutage kommt es immer noch zu Weiterentwicklungen - je nachdem, aus welchen Rassen die Besatzung zusammengesetzt ist. Dieses Regelsystem umfasst einfach unzählige Variablen, die voneinander abhängig sind.”
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