„Das ist doch noch nicht alles”, fügte Fatima hinzu. „Große Teile Mittel- und Südamerikas stehen nach meiner Kenntnis unter der Kontrolle der Drogenmafia, die jahrzehntelang Rauschgift gegen Waffen getauscht hatten. Mexiko war das Fanal, das am Beginn dieser Entwicklung stand, danach war Mittelamerika an der Reihe, schließlich zerbrachen auch ehemals gefestigte Strukturen, wie zum Beispiel Argentinien, Brasilien und Chile, die sich am Anfang gegen die steigende, subversiv kriminelle Unterwanderung des Gemeinwesens einigermaßen zur Wehr setzen konnten. Alle diese Staaten hatten Regionen, die von der jeweiligen Zentralregierung nur schlecht kontrolliert werden konnten. Dies waren die idealen Brutstätten für die mafiösen Strukturen, die danach alle amerikanischen Länder wie ein wucherndes, tödliches Pilzgeflecht durchzogen, dessen letzte Ausläufer bis zur libanesischen Hisbollah reichten. Das wird auch jetzt wohl noch so sein, obwohl ich seltsamerweise seit einigen Jahren nichts mehr aus dieser Weltregion gehört habe.”
Knud antwortete darauf erst einmal nicht. Er sah erneut die Bilder der Katastrophe auf Warendula vor sich. Er wagte es nicht, sich die möglichen Verheerungen auf Sol III vorzustellen; zu grauenhaft war allein schon die Vorstellung der zu erwartenden Apokalypse.
Mary gähnte. „So, ihr Lieben. Ich bin eine alte Frau und dementsprechend müde. Ich gehe in mein Quartier, zwei Türen weiter.” Sie verspürte nämlich keine Lust mehr, sich heute Abend noch mit weiteren Problemfeldern auseinanderzusetzen.
„In Ordnung”, sagte Knud knapp.
Und zu den Bribires gewandt, meinte er:
„Ich habe auch für euch eine Bleibe vorbereitet.”
Sie erhoben sich - müde, überwältigt und erschlagen von der Unmenge an Neuigkeiten. Er führte seine Freunde zum Ausgang. Dann bogen sie rechts ab, gingen etwa 15 Schritte den Gang entlang. Schon vor der nächsten Kabinentür blieb Knud stehen.
„Computer, Zugangsberechtigung für die Familie Bribire erstellen. Autorisation Knud Larssen.”
„Bitte nennen Sie ihren Vor- und Zunamen”, wurden sie höflich aufgefordert.
„Stimmenerkennung erfolgreich. Sie können eintreten.”
Die Tür öffnete sich.
„Computer: Licht”, sagte der Professor.
Eine milde, gedämpfte, dem natürlichen Sonnenspektrum entlehnte Beleuchtung flammte auf. Sie schauten erwartungsvoll in den Raum hinein.
Der Professor stieß einen Freudenschrei aus. „Der große Esstisch im Wohnzimmer und die phönizische Sammlung”,
„die Leuchter und das Porzellan”, rief Fatima jauchzend aus.
Der Professor wandte sich um, Freudentränen glitzerten in seinen Augen. Fatima weinte ebenfalls. Auch Mouad und Elias standen fassungslos vor dem, was sie dort sahen.
„Wo kommen die Gegenstände denn her? Wir haben doch mit eigenen Augen gesehen, dass das gesamte Haus mit all unseren lieb gewonnenen Erinnerungen bei dem Hubschrauberangriff zerstört worden ist!”, riefen Wahid und Fatima wie aus einem Munde.
„Ich sag es erstmal so: Ich sorgte dafür, dass, als ihr das Haus verlassen habt, die Inneneinrichtung gerettet beziehungsweise hierhergeschafft wurde. Ich war mir ganz sicher, dass das Gebäude irgendwann im Verlaufe des Abends angegriffen und vernichtet werden würde. Astrid und Mary hatten mich schließlich vorgewarnt. Ihr werdet jetzt fragen, wie das geht, aber diese Technologie erkläre ich ein andermal. Auch die Bücher, Professor, die Küche und alle anderen Gegenstände, die euch gehörten, sind an Bord dieses Schiffes. Aber nicht alles befindet sich hier in diesem Raum, dafür ist er doch zu klein. Wenn ihr etwas unbedingt sehen wollt oder einen bestimmten Gegenstand sucht, müssen wir uns ins Magazin des Schiffes bequemen und uns dort umschauen; dort ist der Rest eures Hausrates verstaut. Auslöser für diese materielle Rettungsmission war der Gedanke, dass euch die Eingewöhnung erheblich leichter fallen würde, wenn ihr eure persönlichen Sachen in eurer Nähe vorfinden würdet.”
Wieder brachen seine Freunde in Jubelrufe der Erleichterung aus. Sie konnten ihr Glück einfach nicht fassen. Knud musste sich schon ziemlich anstrengen, um noch genug Luft zu bekommen, damit er die Umarmungen des bärenstarken Professors überlebte.
Knud ergriff noch einmal das Wort. Seine Erleichterung über den glücklichen Ausgang des familiären Wiedersehens war ihm deutlich anzumerken:
„So, und jetzt schlaft gut. Wenn ihr nicht wisst, wie das Bett, die Dusche oder die Toilette zu bedienen sind: Immer schön den Computer fragen. Der erklärt nämlich alles mit Engelsgeduld und wird niemals müde. Und durch die Tür eures Quartiers kommt auch niemand hereinspaziert - die Spracherkennung verhindert dies. Aber denkt bloß nicht, dass irgendwelche Attentäter im Anmarsch sind, um euch zu überfallen; es dient nur dem Schutz vor menschlichen Fehlern. Auch mir ist es schließlich schon passiert, dass ich in Gedanken vertieft vor irgendeiner anderen Tür stand, die sich dann nicht öffnete. Man respektiert auch hier die Privatsphäre.”
Der Professor kam auf ihn zu, drückte ihn noch einmal kräftig an sich und sagte gerührt: „Vielen, vielen Dank für alles. Mir fehlen die Worte. Jetzt können wir alle gemeinsam in ein neues Leben aufbrechen.”
Knud wollte schon den Raum verlassen, als Mouad ihn am Arm zupfte.
„Was geschieht mit mir? Wo soll ich die Nacht verbringen?”
„Du kannst selbstverständlich bei mir bleiben. Entschuldige bitte meine Unaufmerksamkeit, aber auch ich bin erschöpft, und scheine daher solche wichtigen Privatsachen zu vergessen. Aber erwarte nicht, dass ich mich in den nächsten Tagen ausschließlich dir widmen werde. Ich bin immer noch für das Schiff und seine Besatzung verantwortlich. Und es ereignen sich häufig als Folge solcher Missionen unerwartete Überraschungen.”
„Kannst du nicht etwas konkreter werden? Wenn das so formuliert wird, werde ich völlig nervös und unsicher.”
„Es geht nicht um dein Leben. Das ist an diesem Ort absolut sicher. Ich denke eher an Fehler, die im Rahmen der zurückliegenden Ereignisse von den Kundschaftern begangen worden sind und erst später zu Tage treten.”
Drüben angekommen, schlief Mouad fast schon im Stehen ein. Knud legte ihn aufs Bett, deckte ihn zu und sagte leise:
„Schlaf gut und sei unbesorgt. Nichts wird dich hier peinigen oder bedrohen.”
Er war überglücklich, dass sein Freund bei ihm war und er ihn nicht auf der Erde zurückgelassen hatte. Er wollte ihn noch einmal kräftig drücken, da ihn schon wieder seine Gefühle überwältigten.
Aber Mouad gähnte lediglich herzhaft und schlummerte bereits nach wenigen Sekunden tief und fest. Knud grübelte noch über seine soeben geäußerten Befürchtungen. Während er sich entkleidete und sich ankuschelte, überkam ihn trotzdem zunächst ein Gefühl der Unruhe, trotz der wohligen Wärme seines Freundes, die auf seinen Körper übersprang. Schließlich versank aber auch er im friedlichen Reich der Träume.
Spät in der Nacht wurde Knud durch ein Klopfen an der Tür wach. Er öffnete sie und Archidux Krwysnoggh schwebte herein, von Antigravitonenemittoren getragen, die ihm den notwendigen Auftrieb in der weniger dichten Atmosphäre des Schiffes ermöglichten. Der Qwrth trug einen Luftverdichter mit Stimmentzerrer an der Unterseite des vergrößerten Kopfes, durch den er die Luft einatmete. Er benötigte, wie viele andere Spezies auch, Oxygen, aber unter bedeutend höherem Druck verglichen mit den meisten übrigen Lebensformen innerhalb des Föderationsraumes. Der Normaldruck an Bord des Schiffes würde bei ihm zu einer Atemnot führen, die dann in kurzer Zeit zu inneren Schäden an den sauerstoffaufnehmenden Membranen führen würde. Aber dank dieser technischen Hilfsmittel konnte er sich überall ohne Einschränkungen bewegen. Seine an einen Chitinpanzer erinnernde Aussenhaut war dermaßen robust, dass sie dem verminderten Außendruck von innen widerstand.
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