Knud schilderte in knappen Sätzen die dramatischen Geschehnisse, die damals vorgefallen waren und musste erneut an die grauenhaften Bilder denken, die im Verlauf der Konferenz auf der Brücke den leitenden Offizieren präsentiert worden waren.
Er fuhr fort: „Diese Rettungsmission von wahrhaft galaktischen Dimensionen war auch einer der Gründe dafür, dass uns ein im Vergleich zur Core Explosion so unbedeutendes Ereignis wie Hitlers sinnloser und mörderischer Krieg auf eurer Welt nicht weiter interessierte. Schließlich drohte ja zu dieser Zeit auf der Erde nicht die Auslöschung einer ganzen Rasse.”
„Moment mal”, unterbrach ihn der Professor, „du willst doch nicht etwa behaupten, ihr könnt ganze Planeten gewissermaßen als Riesenraumschiffe über tausende von Lichtjahren transportieren?”
„Nicht nur das, wir können sogar ganze Sonnensysteme einschließlich der Sterne verschieben.”
Der Professor schnappte nach Luft.
„Die ganze Operation mit allen ihren Auswirkungen dauerte über 25 Jahre. Es mussten zahllose neue Planeten entworfen und nutzbar gemacht werden, ganz nach den Bedürfnissen der Flüchtlinge.
Aber das schier Unmögliche gelang. Seit nunmehr über einem halben Jahrhundert leben und arbeiten die neuen Mitbewohner friedlich mit den alten Rassen der Föderation zusammen. Es gelang sogar, zwei besonders kriegerische Spezies zu absolut friedfertigem Verhalten zu bewegen, da diese besonders intelligent und lernfähig sind und anschaulich sehen konnten, dass man ohne Kriegführung zu ungeheuren zivilisatorischen Leistungen fähig ist.”
„Und du hast das Ganze organisiert?”, fragte Mouad entgeistert.
„Nein, zum Glück nicht alles allein”, meinte Knud schmunzelnd. „Das ganze Projekt hat mich aber dennoch häufig an Grenzen geführt, wo ich dachte, ich würde innerlich zerbrechen.
Diese Aufgabe hat nämlich die Stärken und Schwächen meines Charakters gezeigt:
Zunächst einmal konnte ich die fremden Rassen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Das ließ mein Respekt und meine Wertschätzung gegenüber allen Lebewesen nicht zu; und dies war auch der Grund dafür, warum ich sie unbedingt retten wollte. Andererseits litt durch das enorme Arbeitspensum meine Entwicklung als Mensch.”
Fatima sah ihn respektvoll an. Der Professor blickte nachdenklich zu Mary. Sie schien seine Gedanken zu erraten.
„Es stimmt wirklich alles, was er erzählt hat. Genau so ist es gewesen, ich habe es auch erlebt.”
Der Professor erhob sich und wollte sich wohl vor Knud respektvoll verneigen. Aber dieser sprang noch schneller auf und drückte ihn sanft wieder in seinen Sessel zurück.
„Alle diese Jahre waren unglaublich interessant, spannend, jedoch auch unsäglich verantwortungsvoll. Und genau deshalb ist das Private bei mir zu kurz gekommen. Meine Homosexualität habe ich über viele, viele Jahre verdrängt. Und als ich ihrer so richtig gewahr wurde, blieb keine Zeit für Gefühle.
Überdies habe ich eine Ewigkeit eine schwere Last mit mir herumgeschleppt. Obwohl die Evakuierung ein voller Erfolg war und nur drei Flüchtlinge bei Unfällen durch leichtsinniges Verhalten beim Transport ums Leben gekommen sind, was eine verschwindend geringe Zahl ist, angesichts der Gesamtgröße des Unterfangens, gab es, und damit schließe ich meinen Bericht heute Abend ab, ein entsetzliches Ereignis, das parallel dazu stattgefunden hat.
Die Mission, die auf Sol III zur Zeit läuft, hat ihre Begründung in der nuklearen Katastrophe vor nunmehr 88 Jahren auf einer Welt mit dem Namen Warendula VII, eines in der Nähe der Fluchtrouten liegenden Planeten, der nicht durch die Core-Explosion gefährdet war. Die Bewohner dieser Welt vernichteten sich durch einen nuklearen Schlagabtausch gegenseitig. Diese Kulmination markierte den furchtbaren Endpunkt verschiedener kriegerischer Auseinandersetzungen, die durch Klimaprobleme, Rohstoffknappheit und Überbevölkerung sowie heillose politische Zersplitterung ausgelöst worden waren. Energiekrisen, religiöser Fanatismus, Umweltverschmutzung, Migration, weit verbreiteter legaler und illegaler Waffenbesitz unter der Bevölkerung selbst und atomares Wettrüsten verschärften die instabile politische Situation auf dieser Welt zuvor zusätzlich. Wir wussten also, welches Schicksal dem Planeten bevorstand, konnten aber nicht helfen, da einige Dutzend andere Welten von der Schockfront der Explosion bedroht waren und wir daher absolut keine Transportkapazität mehr frei hatten, um diese Rasse zu retten. In der Charta der Föderation, was etwa einer Verfassung eines der irdischen Staaten entspricht, sind wir nämlich verpflichtet, bei drohender Selbstzerstörung einer Rasse, einzugreifen. Aber hier konnten wir dies bedauerlicherweise nicht.”
Knud konnte die letzten Worte kaum hervorbringen. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Mouad drehte sich zu ihm, zog ihn aus dem Sessel hoch und umarmte ihn.
„Über acht Milliarden Bewohner kamen vermutlich ums Leben”, flüsterte Knud.
„Ich bin froh, dass du noch stets menschliche Gefühle zeigst”, sagte er leise und mit Ernst in der Stimme. „Ich dachte schon, dass ich mich in jemanden verliebt hätte, der meilenweit über mir steht und absolut unnahbar ist. Aber jetzt weiß ich, dass du weiterhin eine liebenswerte Person bist, die glücklicherweise Schwächen zeigt.
Außerdem denke ich, dass du nichts dafür kannst, dass diese Welt untergegangen ist. Dass euch nicht mehr Transportkapazität zur Verfügung stand, ist natürlich eine bedauerliche Tatsache, die aber unter den gegebenen Umständen wahrscheinlich nicht zu ändern war. Aber sieh es doch mal so: Du hast doch vielen anderen Rassen geholfen.
Und zu guter Letzt noch dies: Mach dir um mich keine Sorgen mehr, ich bringe mich schon nicht um. Jetzt, wo ich weiß, dass du zu mir beziehungsweise uns hältst und wir deine Handlungsweisen, die uns im Libanon rätselhaft erschienen, durchaus nachvollziehen können, lässt sich der Kulturschock, der auf uns einstürmt, viel leichter verkraften. Aber du begreifst hoffentlich: Wir alle haben ganz schön an dem zu knacken, was wir hier gesehen und gehört haben.”
„Und jetzt verstehe ich auch, warum ihr an der Erde ein so großes Interesse habt und sie so intensiv beobachtet”, führte Elias aus. „Unsere Welt steht genau so am Rand einer Katastrophe wie dieser von dir eben erwähnte Planet, stimmt’s?”
Knud nickte. Er wirkte wieder etwas gefasster.
„Ich hoffe nur, dass sich das noch nicht in nächster Zukunft ereignet angesichts der Spaltungsbomben, die ja schon irrsinnigerweise eingesetzt worden sind. Wenn es keine neuerliche Eskalation gibt, haben wir auf Terra noch einige Monate oder vielleicht auch Jahre Zeit. Auch wenn Menschen in der Föderation geschätzt und von niemandem diskriminiert werden, so ist doch Sol III mit seinen absolut rücksichtslosen, egoistischen, kriegerischen und die Umwelt zerstörenden Bewohnern leider zu gut bekannt. Die meisten Rassen wollen nämlich nicht wegen dieser Barbaren in einen Feldzug ziehen oder sich gar aufopfern, um Terra zu retten. Daher ist noch viel Aufklärungsarbeit notwendig, um der Erde ein ähnliches Schicksal wie den unglücklichen Bewohnern von Warendula VII zu ersparen.”
Der Professor schüttelte bedächtig den Kopf. So, als wäre er tief in Gedanken versunken und müsste eine schwere Bürde mit sich schleppen. „Viele der Gründe, die du soeben angeführt hast, passen hundertprozentig auf die Entwicklungen auf der Erde. Weit verbreiteter Waffenbesitz unter der Zivilbevölkerung; da fallen mir doch spontan die USA ein. Es gibt kein Land auf der Erde, dass solch eine verheerende Innenpolitik betrieben hat wie diese Nation. Ganze Regionen, zum Teil sogar über die Grenzen mehrerer Bundesstaaten hinweg, wurden im Laufe des beginnenden 21. Jahrhunderts völlig unkontrollierbar, da die dortige Bevölkerung mit ihrer Unzahl moderner Waffen die Exekutive selbst in die Hand nahm. Die staatliche Autorität brach schließlich völlig zusammen. Unliebsame Minderheiten wie Schwarze, Schwule und Lesben, liberal denkende Menschen, Intellektuelle wurden, wie auch zahllose andere Minderheiten, rücksichtslos verfolgt und regelrecht massakriert. Die National Rifle Association (NRA) bildet inzwischen die neue dortige Staatselite und verfolgt einen massiven Aufrüstungskurs. Dass zum Krieg führen aber auch eine fähige Generalität benötigt wird und eine straffe Armeestruktur, ist den Herrschaften offenbar entgangen. Dies zeigt die verheerende Niederlage im Verlaufe des letzten Libanonkriegs überdeutlich.”
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