Dieses Versäumnis würde sie allerdings noch heute Abend nachholen.
Immer vorausgesetzt, sie würde den Abend überleben.
Amoklauf.
Selbstmordattentat.
Sie hatte einige Ideen, wie sie diesen Abend frühzeitig beenden konnte.
Die Stimme der Frau, die nun seit fast zwanzig Minuten darüber lamentierte, wie schlecht es ihr ging, drang schrill in ihre Gedanken.
Was hatte die neurotische Ziege noch mal erzählt?
Angestrengt dachte Cathrynn nach.
Ihr Typ war kurz vor der Hochzeit im Einsatz fürs FBI verschwunden.
Wahrscheinlich hatte er genug Verstand besessen, sich noch rechtzeitig abzusetzen, bevor er die Schnalle mit ihrer schnarrenden, hysterischen Stimme hatte heiraten müssen.
Verdenken hätte sie es ihm nicht können.
Die weinerliche Stimme begann sie langsam auf die Palme zu bringen.
In Gedanken sah Cathrynn sich zu dem Wurfdolch in ihrem Stiefel greifen und der Alten die Kehle durchschneiden.
Stille.
Wunderbare Stille.
Es wurde mit jeder Minute schwerer, dem Drang zu widerstehen.
Demonstrativ blickte Cathrynn auf ihre Uhr.
Sie war erst seit einer halben Stunde hier.
Sie fragte sich aufrichtig, wie sie die noch ausstehenden zweieinhalb überleben sollte.
Ich werde dich umbringen Nathan!
Im Geiste malte sie sich verschiedene Szenarien aus, wie sie es anstellen würde.
Pervers, brutal und langsam waren die Stichworte ihrer Wahl.
In ihre Gewaltfantasien hinein, bemerkte Cathrynn, dass die neurotische Wachtel mit der schrillen Stimme, endlich schwieg.
Die Frauen um sie herum beeilten sich ihre mitfühlenden Bemerkungen herauszusprudeln und natürlich ihre Bewunderung dafür auszusprechen, dass sie so offen über ihre Geschichte gesprochen hatte.
Ich muss hier raus!
In Gedanken ging Cathrynn den Inhalt ihrer Handtasche durch, in der absurden Hoffnung irgendetwas Stärkeres als Aspirin dabei zu haben.
Alkohol?
Heroin?
Zyankali?
Sie hätte die Psychopharmaka vielleicht nicht sofort wegwerfen sollen, die Nathan ihr aufgedrängt hatte.
Heute Abend wären sie Gold wert gewesen.
Fassungslos schweifte ihr Blick noch einmal über die versammelten Frauen.
Das hier konnte nur die Retourkutsche für die Höllenfahrt sein, die sie Nathan in den letzten Monaten bereitet hatte.
Sie wollte nicht glauben, dass er wirklich überzeugt davon war, dass ihr dieses Woodstock-Revival helfen konnte.
Sie wollte nicht glauben, dass er wirklich annahm, dass sie vor diesen Tussis einen Seelenstriptease hinlegte.
Cathrynn stellte sich die Blicke der Frauen vor, wenn sie zu erzählen begänne.
Die Ermordung ihrer Mutter.
Die zerfetzte Leiche ihrer Tochter.
Ob auch nur eine unter ihnen war, die nicht würgend den Raum verlassen hätte, wenn sie ins Detail gegangen wäre?
Sie würde es nie erfahren.
Natürlich würde sie nicht über diese Dinge sprechen.
Wenngleich die Vorstellung durchaus etwas Reizvolles hatte.
Hi, ich bin Cathrynn und ich jage Vampire und Werwölfe, die übrigens meine Mutter, meinen Mann und meine Tochter auf dem Gewissen haben.
„Cathrynn, möchte Sie vielleicht auch etwas dazu sagen?“, fragte Jennifer, die selbsternannte Therapeutin der Gruppe.
Erstaunt stellte sie fest, dass sie Mühe hatte, sich zurückzuhalten.
„Besser nicht“, murmelte Cathrynn.
Ein sarkastisches Lachen untermalte ihre Worte.
„Aber ganz offensichtlich haben Sie eine Meinung zu den Dingen, die Samantha uns gerade erzählt hat und wir alle würden diese gerne hören“, ließ die Pseudo-Therapeutin sich nicht beirren.
„Ich möchte niemanden in Ihrem Handarbeitskreis ernsthaft traumatisieren, Jennifer.“
Sie blickte kurz in die Runde und dann zurück zu Jennifer, die aufmunternd nickte.
Entwaffnend hob Cathrynn die Hände.
„Ich bin der Meinung, dass Samanthas Typ wegen ihrer recht ausgeprägten bipolaren Störung das Weite gesucht hat.“
Samantha keuchte fassungslos bei Cathrynns Worten.
„Und Patti hier, die sich nach wie vor nicht erklären kann, warum sie ihr Kind verloren hat, sollte die Schuld dafür bei ihrer Bulimie zu suchen beginnen“, fuhr Cathrynn trocken fort, ihren Blick kalt auf die knochige Sekretärin aus dem State Department gerichtet, bevor sie den Kopf wieder zu Jennifer drehte.
„Soll ich wirklich weitermachen?“, fragte sie mit einem kalten Grinsen.
„Wenn Sie es schaffen, Ihre eigene Problematik ebenso treffsicher auf den Punkt zu bringen, sehr gerne.“
Widerwillig zog Cathrynn vor ihrer Ruhe den Hut.
Sie hatte erwartet, die andere Frau mit ihren provokanten Worten aus der Fassung zu bringen.
Mit einem anerkennenden Grinsen lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, während sie die Arme vor der Brust verschränkte.
„Sagen Sie es mir“, forderte sie Jennifer heraus.
Diese schüttelte den Kopf, während sie Cathrynn weiterhin erwartungsvoll anblickte.
„Ins Blaue geschossen würde ich sagen, Borderline-Persönlichkeitsstörung auf narzisstischem Symptomniveau, wenn Ihnen das etwas sagen sollte.“
„Würden Sie sich eher als autoaggressiv oder fremdaggressiv bezeichnen?“, überging Jennifer ihre höhnische Endbemerkung ungerührt.
„Jennifer, ich nehme alles zurück, was ich bis gerade über Sie gedacht habe! Augenscheinlich haben Sie schon mal eine Infobroschüre zu einem Psychologie-Abendkurs gelesen.“
Ihre Stimme klang sogar fast aufrichtig anerkennend.
„Aber, wie sagt man? Wenn es am Schönsten ist, sollte man gehen.“
Cathrynn erhob sich graziös.
Ihr Blick schweifte noch einmal über die Runde.
„Ladies, ich verabschiede mich! Es war ein wirklich reizender Abend mit euch“, rief sie zynisch über die Schulter, als sie den Raum verließ.
„Cathrynn, einen Augenblick bitte!“, rief Jennifer hinter ihr her.
Cathrynn drehte den Kopf kurz in ihre Richtung, als sie nach ihrem Mantel angelte. Jennifer schien dies als Aufforderung zu betrachten.
„Es bringt nichts, weiter vor der Realität wegzulaufen.“
Der verständnisvolle Tonfall und der mitfühlende Blick verursachten eine vehemente Übelkeit bei Cathrynn.
Für einen Moment machte es den Anschein, als erwog sie ihre Hand auf Cathrynns Schulter zu legen.
Sie führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende.
Etwas in Cathrynns Blick musste ihr deutlich gemacht haben, dass sie ihre Hand in genau diesem Moment verlieren würde.
Sie musterte die andere Frau kurz herablassend.
„Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist, dass Sie nicht allein sind mit Ihrem Verlust“, betonte Jennifer.
Wieder wollte ihre Hand in die Höhe wandern.
Cathrynn knurrte drohend.
„Was geschehen ist, ist furchtbar, aber es gibt einen Weg heraus aus dem Abgrund, in dem Sie sich befinden.“
Cathrynn brach in schallendes Gelächter aus.
„Jennifer, erzählen Sie mir nichts von Abgründen, die Sie noch nie gesehen haben!“
„Verleugnung bringt Sie auch nicht weiter.“
Langsam regte die stoische Ruhe dieser Schnepfe Cathrynn auf.
„Das ist keine Verleugnung!“, schnappte Cathrynn aufgebracht, besann sich dann allerdings eines Besseren.
Es führte zu nichts mit dieser Frau eine psychologische Debatte zu beginnen.
„Glauben Sie wirklich, dass Sie dem, was Sie mit mir erwarten würde, auch nur im Ansatz gewachsen wären?“, wechselt sie trocken das Thema.
Eigentlich kannte sie die Antwort.
Wie hätte sie dem gewachsen sein können?
Selbst Nathan stand kurz davor zu kapitulieren.
Jennifer schüttelte beschwichtigend den Kopf.
„Nathan hat mich schon vorgewarnt, dass Sie ein recht schwieriger Charakter seien.“
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