Cathrynn stutzte kurz, als ihr zum ersten Mal in all den Jahren auffiel, dass sie außer seinem Beruf überhaupt nichts über die Vergangenheit ihres besten Freundes wusste.
Für einen Augenblick kam sie nicht umhin sich zu fragen, was für ein Mensch er wohl gewesen war, bevor das Schicksal sein Leben zerstört hatte.
Sie suchte nach Hinweisen in seinem vertrauten Gesicht, doch es verriet nichts.
Sie hatte vielmehr das Gefühl, als würde sie ihn heute zum allerersten Mal wirklich sehen.
Ihr Blick glitt über die abgetragene, löchrige Jeans und das zerknitterte T-Shirt, die seine Statur verhüllten.
Die Muskeln, den leichten Bauchansatz.
Die breiten Schultern, an denen sie schon so oft zusammen gebrochen war.
Sie begann sein Gesicht zu erforschen.
Das Gesicht, das sie so oft gesehen hatte, ohne es wirklich wahrzunehmen.
Cathrynn sah erste Anzeichen von Grau in seinen wirren dunklen Haaren.
Sie sah erstaunlich tiefe Falten, die Trauer und Anspannung um seine Augen und seinen Mund gegraben hatten.
Das Leben, das er führte, hatte seine Züge hart werden lassen.
Während sie den Blick über seine Bartstoppeln gleiten ließ, kam sie nicht umhin sich zu fragen, ob ähnliche Spuren in ihrem Gesicht zu finden waren.
Wie in Trance hob Cathrynn ihre linke Hand.
Ihre Finger berührten zärtlich seine geschwollene Lippe.
Fuhren sanft über den Bluterguss an seinem Kinn, bevor sie langsam weiter glitten.
Sie zeichnete gedankenverloren die längst verblasste Narbe auf seiner rechten Wange nach, während ihre Blicke sich trafen.
Für einen Moment versank sie im tiefen Braun seiner Augen.
Eine unglaubliche Sanftheit und Zärtlichkeit sprach aus ihnen, genau wie eine tiefe Traurigkeit.
Was war Nathans Geschichte?
Gegen welche Dämonen kämpfte er jeden Tag?
Sie suchte in seinen harten, unbewegten Zügen nach einem Hinweis auf die Schrecken, die er gesehen hatte.
Die ihn hierher geführt hatten.
Ohne nachzudenken, ließ sie ihre Hand von seinem Gesicht gleiten.
Ihr Atem beschleunigte sich, als sie die harten Brustmuskeln und seinen beschleunigten Herzschlag unter ihrer Handfläche spürte.
Sie stieß den angehaltenen Atem aus, als sie in seinem Blick ertrank.
Quälend langsam näherte sein Gesicht sich ihrem.
Sie spürte seinen warmen Atem über ihre Wange streichen, als seine Hand sich schüchtern auf ihre Hüfte legte.
Sie schloss die Augen und wartete.
Sekunden verstrichen quälend langsam, als ihr Daumen leicht seine Muskeln nachzeichnete.
„Ich glaube, wir beide sollten versuchen noch ein wenig Schlaf zu bekommen“, flüsterte Nathan heiser.
Seine Hand an ihrer Hüfte war verschwunden.
Sein Atem streifte ihr Gesicht nicht mehr.
Sie öffnete die Augen.
Ihre Hände sanken herab.
Der Bann war gebrochen.
Es war nur Nathan, der vor ihr stand.
Kapitel 7
Wieder verhöhnte die Uhr auf seinem Schreibtisch ihn damit, dass er eine weitere Stunde vertrödelt hatte, seit er seine Sekretärin nach Hause geschickt hatte.
Ärgerlich warf Singer den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Es war zum aus der Haut fahren, dachte er seufzend, als er sich die pochenden Schläfen massierte und seine bahnbrechenden Ergebnisse zusammenfasste.
Er wusste jetzt, warum ihm der Name McConaghey bitter aufgestoßen war.
Agent Ian McConaghey war der Hunter gewesen, der Jason zuletzt lebend gesehen hatte.
Agent Ian McConaghey war der Hunter , der vor knapp einem halben Jahr im Einsatz geblieben war.
Lustlos griff er noch einmal zu Franks Einsatzbericht.
Natürlich fand er dort nichts Interessantes.
McConagheys Tod war ein bedauerlicher Unfall gewesen.
So etwas passiert leider bei der Arbeit der Hunter hin und wieder.
Der Bericht flog zurück auf den Schreibtisch, als er zur Dienstakte des verstorbenen Agenten griff.
Schnell überflog er die Informationen, in der Hoffnung irgendeinen Hinweis zu finden.
McConaghey war zum Zeitpunkt seines Todes 41 Jahre alt gewesen und hatte Frau und Kind zurückgelassen, las er.
Director of Operations und Scharfschütze, hieß es weiter. Rekrutiert hatte ihn Joseph Gonzales vor fast zwölf Jahren.
Schnell überblätterte Singer die Einsatzstatistiken. Es war schon nach wenigen Seiten deutlich geworden, dass McConaghey ein exzellenter Agent gewesen war, der sich nicht nur einen Namen als herausragender Kämpfer und Stratege gemacht hatte, sondern auch als einer der besten Doppelagenten der CIA, wie er in fünf hochbrisanten Auslandseinsätzen unter Beweis gestellt hatte.
Ein Anflug von Bedauern überfiel Singer. Er fand es immer wieder tragisch einen derart guten Mann zu verlieren.
Frustriert blätterte er auch die letzten Seiten durch, die von beispielloser Pflichterfüllung sprachen.
Eine unscheinbare Bleistiftnotiz auf der vorletzten Seite der Akte, brachte sein Herz zum Rasen.
Angespannt nahm er die drei handschriftlichen Worte in Augenschein.
Bestätigter Deceit-Ermittler.
Singer sog scharf die Luft ein, als die Worte in seinen Verstand drangen.
Diese Information warf noch einmal ein anderes Licht auf den toten Hunter , resümierte Singer während er sich fragte, ob der tragische Unfall, vielleicht gar kein so tragischer Unfall gewesen war.
McConagheys Beteiligung an der Deceit-Agenda war den Huntern , oder zumindest Frank, dessen Handschrift er in der Notiz erkannt hatte, bekannt gewesen.
Singer kannte die Gerüchte darüber, wie die Hunter mit Verrätern verfuhren und eine Beteiligung an den Ermittlungen der ISU, hätte jeder Hunter als offenen Verrat ausgelegt.
Mit einem unwilligen Grunzen warf Singer McConagheys Akte auf den Schreibtisch und schloss die Augen, während er sich einen Narren schollt.
Seine Fantasie begann Amok zu laufen, ermahnte er sich ärgerlich. Natürlich gab es Gerüchte darüber, dass interne Tötungsbefehle noch immer eine gängige Praxis in der Abteilung waren, doch das wollte er nicht glauben.
Er kannte Frank zu lange, dass er wusste, dass dieser Mann weder jemals den Befehl zur Ermordung eines Hunters geben würde, noch stillschweigend tolerieren würde, dass die Einheit das Recht in die eigene Hand nahm.
Er sah Gespenster, das war alles. Frank wäre sicherlich zu ihm gekommen, hätte er jemals Grund zu der Vermutung gehabt, dass etwas an McConagheys Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre. Singer stutzte in seinen Gedanken, als er sich gegen seinen Willen zu fragen begann, ob er sich hier nicht nur etwas vormachte.
Wäre Frank wirklich zu ihm gekommen, wenn er Verrat in den eigenen Reihen geahnt hätte?
Singer erinnerte sich unwillkürlich an die Gerüchte, die eine Weile nach Jasons Tod kursiert hatten. Frank hatte unwillig abgewinkt, als er ihn darauf angesprochen hatte, doch Singer war sich nicht sicher, ob Frank ihm die Wahrheit gesagt hatte. Zweifel waren geblieben, wenngleich er nicht glauben wollte, dass sein Sohn ein Verräter gewesen sein könnte.
Singer spürte, dass sich Misstrauen gegen seinen langjährigen Freund zu regen begann, als er sich fragte, ob er den Mann mit dem ausdruckslosen Blick wirklich so gut kannte, wie er es glaubte.
Seufzend erhob er sich hinter seinem Schreibtisch.
Er hatte seinen Entschluss gefasst, morgen würde er den Obduktionsbericht anfordern, dann hätte er Klarheit.
*
Lauernd folgte Er dem blonden Schönling durch die dunkle Seitenstraße, sorgfältig darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen.
Noch immer ärgerte Er sich darüber, dass Er ihn nicht töten durfte - etwas, dass Er schon seit Jahren mit Freuden getan hätte.
Der Befehl des Controllers ließ hier allerdings keinen Interpretationsspielraum: Er sollte den Bastard lediglich einschüchtern und ihn so wieder auf die richtige Spur bringen.
Читать дальше