Wir steigen den Berg hinauf. Es gibt so viele von uns, dass sie uns bald nicht mehr ignorieren können, Mandy. Die indianischen Mädchen allein – nur die aus Vancouver und British Columbia – wären schon eine Armee, und dazu kommen noch so viele aus Kalifornien, so viele aus Ohio, so viele aus Michigan, wir sind von überall her, aus jedem einzelnen Bundesstaat. Jede von uns für sich ignorieren sie, mal war es eine miese Pille oder ein mieser Mann, mal sind wir ins falsche Auto eingestiegen, völlig egal. Aber zusammen, wenn man uns nicht voneinander trennt und isoliert betrachtet, sondern uns alle zusammen, sieht man, dass das nicht stimmt. Es ist viel größer. Bis gerade eben war mir das selbst nicht bewusst, Kleine Mandy. Ich dachte, es wäre mein Fehler. Ich bin so froh, dir das sagen zu können, damit du dich nicht mit diesen Gedanken belasten musst. Also wie gesagt, hier musste ich die Karte umdrehen, wir
steigen
den Berg hinauf. Wenn wir
herabkommen, wird es auf eine Weise sein,
die sie nicht ignorieren können.
Und bis dahin sind wir in Sicherheit.
Ich wünschte, es gäbe einen Weg für dich, hier zu sein, stand über den weitesten Teil des Himmels geschrieben, ohne diese Straße beschreiten zu müssen. Ich hab Dich lieb und vermisse Dich, Kleine Mandy.
Ich hatte sie gerade zu den anderen in meine Ausgabe von Betty und ihre Schwestern gelegt, als es an der Tür klingelte. Hätten sie nur eine halbe Stunde länger gewartet, wären mir die Tränen übers Gesicht geflossen und sie hätten vielleicht gewonnen. Aber als die Polizei draußen stand, konnte ich nur an eines denken: Verrate einem Cop niemals deinen Namen, Kleine Mandy! , und beherrschte mich. Ich nickte und machte sogar das Licht an, damit sie mich nicht für schrullig hielten, aber das ist nicht dasselbe. Und als sie mir den Ring mit der Schildkröte aus Onyxsplittern zeigten und mich nach Nat befragten, sagte ich, nein, meiner Schwester geht’s gut. Ich habe gerade eine Postkarte von ihr bekommen.
Originaltitel: Postcards from Natalie
Erschienen in The Dark 7/16 (Wiederveröffentlicht in The Year’s Best Dark Fantasy and Horror 2017 )
Übersetzung: Sebastian Rudolph
Max P. Becker – Strandpoesie
„I was standing outside myself trying to stop those hangings with ghost fingers … I am a ghost wanting what every ghost wants — a body — after the Long Time moving through odorless alleys of space where no life is, only the colorless no smell of death …”
William S. Burroughs: „Naked Lunch“– The Restored Text
Wenn sich auf seinen Wanderungen, die er in Einsamkeit verbrachte, ein herrlicher Anblick auftat, dachte er daran, wie viel Schönes in der Welt unentdeckt verweilte und recht tat er daran. All den Wucherungen und Verästelungen, den Gestrüppen, die die Kunst seit Jahrtausenden unerbittlich durch jedes wahrnehmbare Objekt trieben und die Augen wund machten, war nicht länger zu entkommen und doch –
Er hielt für einen Moment inne und lauschte der gedämpften Melodie eines Plattenspielers, die die Geräusche der Wellen überlagerte. War das die Stimme Eddie Cantors? Jedenfalls strömte die Musik, der Ruf der Zivilisation, getragen vom Ostwind, in den Wald hinein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schulterte seinen Rucksack und bewegte sich in die Richtung, aus der die Töne drangen. Obwohl sich seine Neugier in Grenzen hielt und er noch eine weite Strecke vor sich hatte, drehte er sich wie jemand um, der hinter sich unerwartet einen Mann oder eine Frau husten hörte.
In der Luft schwelte eine unergründliche Energie, ähnlich der vor einem Wolkenbruch. Es fühlte sich an, als könnte es jederzeit in Strömen regnen oder schneien oder hageln. Nichts dergleichen geschah: Durch die Baumkronen war keine einzige Unwetterwolke zu sehen – nur Grau. Die Sonne hatte am Tag nicht geschienen. Kein Vogel sang. Das Moos schluckte sämtliche Geräusche seiner Schritte. Über jede Wahrnehmung, jede Empfindung senkte sich eine unbeschreibliche Aura des Widernatürlichen.
Er hätte an dieser Stelle sicherlich merken können, dass etwas nicht stimmte, aber wie es so ist, lassen sich die ärgsten Zweifel hinter dem Schleier von Banalität und Ignoranz verbergen.
Da waren plötzlich Stechmücken neben ihm. Tausende, Zehntausende, vielleicht Hunderttausende – wer hätte sie zählen können? Er spürte sie um sich sausen, seine Haut streifen und seine Ohren mit ihrem Summen füllen, doch war er unfähig dazu, sie zu sehen. Vergeblich fuchtelte er in der Luft herum, dabei war da nichts – nichts Greifbares. Die eigenen Körperfunktionen waren ihm ein Orchester, der taktgebende Dirigent das Gehirn – pochpochpoch. Speichel sammelte sich auf seiner Zunge, sodass er alle paar Sekunden schlucken musste. Das Schmatzen, das er sich selber zuschrieb, war nicht seines (und gleichzeitig gehörte es keiner anderen Kreatur). Vor ihm tauchte ein Haus auf, ein gewöhnliches Ferienhaus, eines von der Sorte, welches sich an eine Düne schmiegte und für Familien gebaut wurden. Eine Schaukel, viel Sand, Rasen, Spielsachen und was sonst dazugehörte. Hinter der Düne ragte der unbestückte Wipfel eines Baumes hervor. Ein Drachen hatte sich darinnen verfangen, die abgerissene Schnur wehte im Seewind. Aus diesem Haus drang die Musik oder wenigstens: aus dieser Szenerie. Was das bedeutet? Beides war eines geworden.
Selbstverständlich schwitzte er am gesamten Körper. Seine Wanderungen waren immer lang und unerbittlich. Für Pausen hatte er meist keine Zeit. Heute jedoch schwitzte er nicht vor Anstrengung; Er schwitzte, weil seine Nerven blank lagen. Sie glichen einem aufgescheuerten Knie oder einer Platzwunde am Kopf. Diese Schmerzen gehörten mittlerweile nicht mehr ihm – nicht seit das Quietschen eingesetzt hatte. Wie all die anderen Geräusche hatte sich das Quietschphänomen verselbstständigt, brauchte keinen Körper, ohne Körper keine Seele, und es klang, wie zwei übereinander reibende reife Früchte. Die Tonhöhe variiert willkürlich. Doch das Scheußlichste daran war wirklich, dass die Quelle nirgends auszumachen war.
Ob er fliehen könnte? Wahrscheinlich nicht. Er folgte der Musik durch die offene Balkontür, um wenigstens diese Geräuschquelle zu eliminieren. Das mochte ihm helfen, um die restlichen Merkwürdigkeiten zu vergessen. Nach allem war das Haus erschreckend gewöhnlich. Bis vor Kurzem hatte eine Familie hier gehaust (oder tat sie es noch immer?). Da waren drei Paar Damenschuhe, ein Paar schlammverkrusteter Herrenschuhe und einige durcheinandergepurzelte Kinderschühchen. Von letzteren fehlte seiner Zählung nach einer, und dieses Detail ließ ihn zum ersten Mal gründlich erschaudern. Er wusste nicht warum, und der Grund lag letztlich auch nicht auf der Hand. Außer dieser Haushülse verwies hier nichts auf menschliches Leben. Im Flur waren einige Blätter in einer Reihe verstreut worden, und er bückte sich und erkannte, dass eine krumme Linie sie miteinander verband. Und irgendwie spürte er, dass die Stiftführung nicht die eines Kindes, sondern die eines Erwachsenen war. Dies war die Intuition eines gläsernen Gehirns, gegen das sein Seelenpendel geschlagen hatte. Weitere Blätter führten die Treppe hinauf. Er ignorierte sie und folgte der Spur ins Esszimmer.
Mittlerweile konnte er nicht mehr auseinanderhalten, ob die Stechmücken, das Schmatzen, das Quietschen oder sogar seine eigenen Körperfunktionen die Akustik beherrschten. Die Musik, ach ja, die Musik fiel ihm ein. Die konnte ebenfalls die Akustik beherrschen.
Das Esszimmer war verwüstet worden. Ohne den geringsten Zweifel hatte hier jemand den Verstand verloren. Dieses Chaos stammte nicht vom Wind, rührte von keinem Streit, nicht von den Kindern, einem Einbrecher und auch keinem Mörder – nur ein Irrer wütete auf diese Weise.
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