Er hielt sich den Kopf, der nicht länger Teil seines Körpers war, und fiel auf einen Stuhl. Danach zog er sich mit einer immensen Kraftanstrengung hoch, schließlich hörte er nachträglich das Geräusch seines Aufpralls auf die Sitzfläche.
Er lächelte mit offenem Mund; das Lächeln gehörte auch nicht mehr seinem Mund. Aber seine Augen blickten weiter für ihn, alle seine Sinne saugten die kosmischen Empfindungen um ihn herum auf, bis sein Organismus zwangsläufig zusammenbrechen würde. Davon ahnte er nichts, und ohnehin ahnte er kaum noch was. Er griff nach den vollgekritzelten Seiten auf dem Tisch, ohne zu wissen, ob die gewählte Reihenfolge tatsächlich stimmte. Einer geistlosen Eingebung folgend (einem logischen Schluss, wie ihn jedes Kind der Welt in seinem Leben kennengelernt haben wird), sortierte er sie nach der Lesbarkeit – die besser leserlichen vorne und das Gekrakel nach hinten. Einige besonders Unleserliche sparte er aus. Das letzte Blatt mündete in der krummen Linie, die sich auf den Blättern am Boden fortsetzte.
Im Strudel der unirdischen Phänomene begann er zu lesen:
Mir ist hier am Meer zum ersten Mal bewusst geworden, wie wenig ich fühle. Ich weiß zu sagen, was meine Familie sich erhofft, und weiß zu handeln, wie von mir verlangt. Den Augenblick, in dem ich mein Erlebnis am Strand zu Papier bringe, prägt das Bewusstsein, dass sich alles ändern wird. Ich erkenne, wenn ich aus dem Fenster spähe, die Lust, den Rausch, die Poesie, die mir nie zuteil geworden ist. All die HOHEN Gedanken. Mein Leben war profan. Das Tapsen und Kichern von Cat und Tammy beglückt mich nun mehr als meine Eheschließung. Meine reizende Frau Gertrude (die ich sehr, sehr, sehr liebe) küsste mir soeben auf meine beginnende Glatze (sehen wir den Tatsachen ins Auge – oder?) und ist auf dem Dachboden verschwunden. Elektrizität durchfährt all die Nerven und Fasern meines Körpers, damit mein Stift ein Fragment des Glücks auf ein weißes Stück Papier zu bannen fähig ist. Hier also kommt es, mein Stranderlebnis:
Die Fahrt zum Ferienhaus verlief nervenaufreibend. Die Mädchen scheuten sich vor keinem Streit, keiner Rangelei, keinem Ungehorsam, der ihnen über den Weg lief. Ungezogene Gören. Die Sonne prallte mit voller Wucht auf unseren Wagen, der Reifen rebellierte vor unserem Ziel, der Stress rieb uns alle auf. Stickige Luft. Schwüle Luft. Staub in der Luft. Cat schrie bei unserer Ankunft über ihre rotgeschwollene Wange und Gertrude schmollte und Tammy scheute keinen Streit, keine Rangelei – gehorchte jedoch. Ich verließ meinen Hühnerhof (jaha, wir Männer sind verdammt gerissen, was?) und stakste an den Strand. Ich kannte ihn seit meiner Kindheit: die streichelnden Dünen, die peitschenden Sandwehen, das Auf und Ab der Wellen. Ein Strand. Und hier ist, was ich meine: Früher war mir dieser Ort egal gewesen. Ich war Millionen und Millionen Male am Wasser spaziert, mit Schaufel und Eimer, mit Eiscrème und Matrosenanzug, mit Mamma und Pappa. Davon gibt es noch FOTOGRAFIEN! Warum zur Hölle bekam dieser Ort also heute erst seine Bedeutung?
Ich hasse es, wenn Menschen klagen (ich meine, man braucht nur Cats Wange zu sehen), ich hasse es wirklich. Manchmal treiben mich die Umstände zur Weißglut. Arme, arme Cat – wie weh es getan haben muss. Ich war mir verdammt sicher gewesen, richtig gehandelt zu haben, und trotzdem strömen mir Tränen aus den Augen. Was ein Versager, ein herzhafter Bastard, lernt von ihm, wie man im Leben versagt.
ICH HÖRE EURE SCHREIE. Alles in Ordnung. Ich führe dieses Dokument fort, nachdem wir unser Abendessen beendet haben. Sonst hören sie nicht auf – zu schreien.
Alle waren ruhig, yippi, wo war ich? Am Strand suchte ich mir ein Kliff, um eine Zigarette zu rauchen. Sie klebte in meiner schweißfeuchten Hand, und es fiel mir schwer, an ihr zu ziehen. Die salzige Luft nahm mir meinen Spaß. Aber da war noch mehr. In der Luft hing eine ungebündelte Kraft, eine knisternde Energie wie vor einem gewaltigen Sturm. Den Hühnerhof hatte ich vergessen. Niemand suchte nach mir. Ich übersah meine Möglichkeiten und gleichzeitig den Strand nach etwas, das mich aus meiner Not retten könnte.
Plötzlich bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Zehn Fuß vor mir stach ein auffälliger Gegenstand aus dem Sand hervor. Eine hohle Muschelschale, ein abgezogener Reifen, ein halber Picknickkorb – ich stützte mich vom Sandboden ab und verrenkte mir den Kopf, um den Unterschied auszumachen. Sobald ich merkte, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war, sprang ich auf und näherte mich dem fremden Treibgut. Der Wind blies mir einen durchdringenden Geruch entgegen, der mich an Spargelurin erinnerte. Bei dem Gegenstand handelte sich um ein unförmiges Objekt von dreizehn Zoll Durchmesser, das über und über von einem organischen Film wie Öl bedeckt war. Seine Ausmaße erinnerten an die Innereien einer Auster, durch die jemand schwarze Schläuche gezogen hatte. Die Proportionen waren kaum fassbar.
Weil es mir gefiel, stopfte ich es mir in den Mund und schlang es im Ganzen herunter.
Guten Morgen, Leichtmatrosen und unwillige Matronen, haha, die letzte Nacht hindurch erhitzte sich mein Magen, bis ich zum Fenster getaumelt war, um dort eine Zigarre zu paffen. Gertrude wachte nicht auf. Sie hätte sich gewundert, dass mein Bauch vollends aufgebläht war. Ich schriebe gern nieder, es läge am Pflaumenkuchen, den sie mir zur Entschuldigung gebacken hatte, fürchte jedoch, es könnte an dem Strandding, dieser Auster, liegen. Ich erinnere mich beim besten Willen nicht, weswegen ich es so eifrig verspeist habe. Juni da ist kein R, so sagt man doch, ist das gut oder schlecht? Lest die Buchstaben auf weißem Papier! Die Worte von Gestern beleuchten das Heute; das Wichtigste ist, sie nicht auszuradieren und dem Weiß preiszugeben. Ohnehin grenzt dies an Unmöglichkeit, weil ich den Bleistift mit meinem Füller nachgezogen habe und fortan mit Tinte schreibe. All die prallen Bildlichkeiten, Konstrukte, Aquädukte in Buchstaben repräsentieren meine herrlichen Wonnen. Ohne sie müsste ich mich schämen – was?
Zurück am Schreibpult. Ich habe nicht mehr dermaßen viel geschrieben, seitdem ich Gertrude meine Liebe gestanden habe. Was ein Unterschied dagegen meine jetzige Verfassung darstellt! Ich hing heute ungefähr dreimal über der Toilette und habe all die buschigen Pflaumenstückchen wiedergekäut. Mein Körper verdaut sie nicht. Das ist so eine Sache mit Pflaumenkuchen; man speist und speist und merkt gar nicht, dass man nichts mehr essen will. Die Auster hingegen blieb drinnen. Ich fühle wenig, sehr, sehr wenig. Ich mache einen Strandspaziergang.
Zurück. Unglaublich! Der Strand hat sich verändert. Ich bin bestürzt und muss meine Gedanken in Worte fassen. Obwohl der Himmel matt und grau verhangen war, stahl sich in jedes Sandkorn, jeden Tropfen Gischt, jede Facette eine Pracht, welche einen besseren Künstler als mich auf ewig zum Schweigen brächte. Meine Beine stolperten über die glasigen Dämpfe, unter denen zahllose Farbenspiele flammten. Tupfen, impressionistische Striche, schallende Kontraste erstreckten sich zu meinen Füßen, ein Reich der Sinnlichkeit, erblickt von einer SINNLOSIGKEIT. Ich bin zurückgerannt und habe den Mädchen verboten, zum Strand zu gehen. Sie sind nicht reif genug, um eine solche Pracht zu schauen. Gertrude ist aufgebracht, weil sie wissen will, was los ist. Ich führe sie an den Strand.
Hier bin ich. Jeder Absatz ist eine neue Welt. War ICH das, der schreibt? Ich glaube, die Welt steht Kopf. Cammy und Tat spielten am Baum, hatten ihren Drachen gut geschreddert verheddert. Die Hühner haben eine Leiter gebaut und wären fast in die Dünen gekracht. Pah! Gertrude wäre außer sich gewesen. Sie schläft –! Die Auster hat ihr gemundet. Ich glaube nicht, dass die Polizei kommt oder irgendwer. Was wäre die Welt ohne unerhörte Dinge! Der Drachen ist verloren. Um zu verstehen, dass niemand uns hier schreien hört, müssten wir zwanzig Meilen zur Telefonzelle. Nicht mit mir. Nicht mit mir. Nicht m
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