„Ich danke dir“, sprudelte es aus ihr heraus, bevor sie mich umarmte. „Ich weiß, ich bin ein bisschen durchgedreht, als Nat abgehauen ist.“
„Ich bin mir sicher, Nat hat auch nicht alles so gemeint, was sie gesagt hat.“
Mom schüttelte den Kopf. „Zu dir war ich ebenfalls nicht fair. Du warst mein Fels, Mandy. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.“ Sie drückte mich fester, nur für eine Sekunde, und ließ mich dann los. „Wenn du eines Tages fortgehen solltest, wüsste ich wenigstens, dass du mir weiterhin schreiben würdest.“
Ich überlegte, ihr von den Postkarten zu erzählen, die ich versteckt hatte, doch ich zauderte zu lange, und dann war der Moment verflogen. Ich glaube, am Ende hätte es aber ohnehin keinen Unterschied gemacht.
Die nächste Postkarte bewies, dass ich mir wegen des Schnees keine Sorgen hätte machen brauchen. Nat war clever, wie Mom gesagt hatte. Sie befand sich jetzt in Texas, unten an der Golfküste. Auf der Karte prangte eine Meeresschildkröte, und ich lächelte beim Gedanken daran, wie glücklich sie gewesen sein musste, als sie darauf gestoßen war. Ihre Buchstaben waren so schwungvoll wie zuvor, doch mittlerweile kleiner, da sie wohl begriffen hatte, dass sie auf diese Weise mehr mitteilen konnte.
Hab hier draußen endlich einen süßen Typen getroffen , schrieb sie, und bei meinem Glück ist er natürlich eine Riesenschwuchtel. Aber ein netter Kerl. Heißt Alejandro. Er sagte, er wäre mit knapp 30 anderen Kids unterwegs gewesen, aber sie hätten vor einer Weile einfach die Kurve gekratzt. Also wird er uns wohl eine Zeit lang begleiten. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Nat kicherte und ‚was für eine Verschwendung‘ seufzte, vermutlich beim Versuch, sein Haar zu tätscheln – aber ohne es fies zu meinen, einfach nur Nat in ihrer typischen Unbekümmertheit. Ich hoffte, dass sie ihn nicht zu Tode piesacken würde, aber gleichzeitig genoss ich den Gedanken an ihr Kichern, also Pech für Alejandro. Beth meint, auf der Straße würden sehr oft Leute verschwinden – am wichtigsten sei, dass wir alle zusammenhalten und nicht mit den Cops reden, sie sollen uns nicht einmal zu Gesicht bekommen, sofern es sich vermeiden lässt. Aber manchmal geht das natürlich nicht. Vor allem nie deinen Namen verraten. Verrate einem Cop niemals deinen Namen, Kleine Mandy! , waren ihre Schlussworte.
„Als würde ich das tun“, sagte ich laut zu mir selbst, und legte die Karte zu den anderen.
Der Frühling setzte in diesem Jahr zeitig ein, und Mitte März holte Greg sein Motorrad aus der Garage. Um diese Zeit holten viele Leute ihre Motorräder heraus und viele andere nahmen auf sie keine Rücksicht. Gregs Unfall war nur deshalb ungewöhnlich, weil es sich um Fahrerflucht handelte. Man hielt lange Ausschau nach einem verbeulten Auto, einem schlechten Gewissen, nach irgendetwas, doch man fand nie den Schuldigen. Der einzige Trost war, dass Mom und Greg beide praktisch auf der Stelle starben.
Ich zog einfach meinen Kopf ein, so wie damals, als Dad und Nat abgehauen waren, und anfangs dachte ich, dass es vielleicht keinen großen Unterschied machte, ob ich mit den Postkarten die ganze Zeit alleine war oder nur die meiste Zeit. Aber da lag ich falsch. Jetzt, wo ich nichts zu tun hatte und niemanden, für den ich es tat, las ich alle Postkarten zwei- oder dreimal am Tag durch, wodurch sie sich allmählich verbogen und an den Ecken abnutzten, und das war nicht in Ordnung. Abgesehen davon wusste der Teil meines Gehirns, der nicht wie benommen war, dass das Geld von Moms Versicherung nicht ewig reichen würde, selbst wenn mir nie wieder der Sinn nach Essen stand.
Meine alte Filialleiterin bei Tractor Supply hatte mich immer gemocht und bekam Mitleid mit mir. Sie setzte sich bei ihren Vorgesetzten für mich ein, pochte darauf, dass ich stets zuverlässig gewesen sei, bis zu diesem einen Tag, und ich glaube, das schob sie auf Mom, hab aber nicht nachgefragt. Moms Temperament hatte in der Stadt einen ziemlichen Ruf genossen. Auf jeden Fall hatte sie Erfolg und ich wieder einen Job, allerdings auf der untersten Stufe der Karriereleiter, wo mir Kids Anweisungen gaben, die zwei, drei Jahre jünger waren als ich. Aber das störte mich nicht. Ich kehrte ausgekipptes Vogelfutter auf, hängte die Carhartt-Jacken wieder richtig hin, arbeitete an der Kasse. Und ich konnte jeden Tag dem Moment entgegensehen, wenn ich in die Einfahrt bog und den Briefkasten öffnete, anstatt den ganzen Nachmittag auf die Huskies zu lauschen.
Die nächste Postkarte erreichte mich ungefähr eine Woche, nachdem ich wieder arbeiten ging, obwohl es mir wie die vielen Jahre vorkam, die es eigentlich brauchen sollte, um die Welt komplett aus den Angeln zu heben. Sie hatte es nach Kalifornien geschafft, das Land der Träume, über dessen Besuch wir immer gesprochen hatten, der Ort, den wir aus dem Fernsehen kannten. Die Postkarte zeigte ein Schiff der Navy im blauen Wasser mit dem Schriftzug San Diego.
Total schräg , stand auf der Rückseite. Kurz nachdem wir hier angekommen sind, entdeckte ich entlang der Straße eine Frau, die genau wie Mom aussah. Genau wie sie, Mandy. Ich starrte sie an und sie starrte zurück, aber sie drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen. Das sähe ihr überhaupt nicht ähnlich, oder? Nicht, wenn sie etwas mitzuteilen hätte. Bei ihr war auch ein Typ, den ich nicht kannte. Also war es wahrscheinlich nicht Mom. Allerdings hoffe ich, dass zu Hause alles in Ordnung ist … Ich vermisse es zwar nicht, aber ich vermisse dich.
Nat hatte kein Datum auf die Karte geschrieben, das tat sie nie. Aber der Poststempel war von dem Tag nach Moms Beerdigung. Und sie war erst jetzt hier angekommen. Ich begann mich zu fragen, ob auf der Straße, die Nat bereiste, die Zeit völlig anders tickte.
Aber sich solche Gedanken zu machen war verrückt, und da ich jetzt ständig normalen Leuten gegenüberstand, sorgte ich mich schon ein wenig, dass ich den Verstand verlieren könnte. Menschen taten das, nach einem Trauerfall, in leeren Häusern. Die einen stapelten Bierflaschen bis unters Dach, die anderen stopften sich die Scheunen, Schuppen und Häuser voller Katzen, die nach Pisse stanken, und wieder andere fanden auf eine heftige und befremdliche Weise zu Jesus, aber darunter verbarg sich stets dieselbe Verrücktheit. Diesen Weg wollte ich nicht einschlagen. Ich nahm mir vor, die Postkarten nur jeden zweiten Tag zu lesen. Oder nur einmal pro Woche. Sie würden sich deutlich länger halten, wenn ich sie nur einmal pro Woche las, und ich mich ebenfalls. Ich übernahm jede Stunde im Tractor Supply, die ich kriegen konnte.
Deshalb arbeitete ich auch an jenem Abend die Spätschicht, als Keith fünf Minuten vor Acht aufkreuzte. Er schleppte einen halben Zentner Hundefutter und bis er begriff, an wessen Kasse er stand, war es vermutlich zu spät, um unbemerkt kehrtzumachen.
Ich ließ mir zuerst nicht anmerken, dass ich ihn erkannt hatte. Es wäre im Prinzip nicht verwunderlich gewesen, keine Notiz von ihm zu nehmen – die schwarze Farbe war aus seinen dunkelblonden Haaren herausgewachsen und er sah heute viel älter aus als damals, bevor er und Nat abgehauen waren. Vor nicht ganz einem Jahr. Bisher hatte ich es gedanklich nie mit einem konkreten Datum verknüpft. Die Zeit tickte hier ebenfalls seltsam.
Ich wartete, bis ich das Hundefutter eingescannt und sein Geld genommen hatte, und gab ihm schließlich den Kassenbon mit den Worten: „Was du Nat angetan hast, war echt nicht cool.“ Ich sagte es so leise und ruhig, wie ich konnte. Die Mädchen an den anderen Kassen sollten nicht denken, ich wäre wie Mom und würde eine Szene machen.
Er ließ den Bon fallen und rannte ohne das Futter davon. Ich quälte mich den restlichen Abend mit der Frage, ob Strider jetzt hungern musste. Das hätte Nat nicht gewollt.
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