Mom schaffte es ebenfalls, einen Freund aufzugabeln, einen Kerl, der mit ihr im Gefängnis von Wende arbeitete, aber keinen der Wärter, sondern einer von denen, die sich um die Klimaanlage und die Elektrik kümmerten. Ich mochte ihn irgendwie oder war zumindest froh, dass er kein Wärter war, denn die Wärter, mit denen sie ausging, konnte ich nie leiden. Als sie ihn das erste Mal mit nach Hause brachte, streckte er die Hand aus und sagte: „Du musst Amanda sein“, wobei er weder zu fest zudrückte, als wäre das ein Kräftemessen, noch versuchte mir auf die Pelle zu rücken. Soweit also in Ordnung. „Ich bin Greg.“ Man sah sofort, dass er sein Sportsakko nicht oft aus dem Schrank holte, tatsächlich erinnerte es mich an ein altes Foto von Dad bei der Hochzeit einer meiner Tanten, auf dem seine ausgebeulten Ellbogen total peinlich aussahen. Dass Mom an jenem Abend nicht nach Hause kam, überraschte mich nicht.
Mom lud Greg nie dazu ein, bei uns zu übernachten, aber einmal in der Woche oder so kam er zum Abendessen. Sie kochte an jenen Abenden, was mir gut passte und vielleicht einen Schubs in die richtige Richtung gab, jedenfalls fand ich ihn zunehmend sympathischer. Wie schon bei unserem ersten Handschlag behandelte er mich immer wie eine Erwachsene, was sonst kaum jemand jemals tat. Und durch ihn wurde Mom deutlich entspannter und umgänglicher. Auch sie fing an, mich wenigstens ein kleines bisschen wie eine Erwachsene zu behandeln.
Eines Abends zum Beispiel, nachdem wir alle Lasagne gegessen hatten – ihr ganz spezielles Lieblingsgericht – und Brownies mit einer Haube Frischkäse obendrauf, öffnete sie eine Flasche Wein, die Greg mitgebracht hatte, goss sich beiden ein Glas ein, und danach auch eines für mich. Ich hatte angefangen, den Tisch abzudecken, aber sie deutete mit der Weinflasche auf mich und meinte: „Setz dich. Das rennt nicht weg.“
Ich gehorchte und nahm einen Schluck Wein. Nicht dass ich noch nie Alkohol getrunken hatte – zum Zahnen hatte ich Old-Crow-Whiskey eingeflößt bekommen, und Nat hatte mich seit der Mittelstufe an ihren Genesee-Bierdosen nippen lassen –, aber dazusitzen und aus den guten Gläsern zu trinken, verschob alles ein wenig seitwärts. Ich fühlte mich sofort beschwipst, obwohl der Wein ziemlich sauer war.
Der Wind drehte auf und das Futterhäuschen klapperte gegen das Fenster. „Is’ bald Winter“, sagte Greg, und seinem Blick nach zu urteilen, bezog sich das auf etwas, das er mit Mom besprochen hatte.
Sie nickte. „Tja, wenn man ihrem Gebrüll von damals Glauben schenkt, ist sie kein verdammtes kleines Kind mehr.“
„Sie hat bestimmt einen Platz zum Überwintern gefunden.“
„Ja, da bin ich mir absolut sicher.“ Mom nickte nachdrücklicher, als nötig gewesen wäre, und trank einen größeren Schluck Wein.
„Im Ernst, Joanne, du musst die Sorgen abschütteln. Sie ist doch sicher ein cleveres Kind. Amanda hat jetzt schon ordentlich Grips im Kopf, und sie ist zwei Jahre jünger.“ Greg schaute mir in die Augen und für einen Moment befürchtete ich, dass Mom austicken könnte, aber sie verstand, dass es keinen Grund gab, eifersüchtig zu sein, nicht bei Greg.
„Amanda war immer die Verlässliche.“ Mom stupste mich mit dem Ellenbogen an. „Ich weiß, man sollte seine Kinder nicht miteinander vergleichen, aber es stimmt und das weißt du, Mandy. Du kamst verantwortungsbewusst auf die Welt. Nat hingegen hatte eine wilde Ader.“
Mir gefiel nicht, dass sie ‚hatte‘ sagte, aber ich sagte nichts.
„Aber du hast recht, Greg. Sie ist clever. Das sind sie beide, Gott sei Dank kommen meine Mädels da ganz nach mir. Beides Einserschülerinnen, und beide wissen, wie man auf sich selbst aufpasst. Dafür hab ich gesorgt.“
„Sie hat mir beigebracht, wie man Brennholz hackt, nachdem Dad fort war“, warf ich ein, weil ich das Gefühl hatte, endlich etwas sagen zu müssen. „Sie besorgte mir ein putziges kleines Beil und übertrug mir das Feuermachen. Sie und Nat lobten mich, als hätte ich uns alle vor dem Erfrieren bewahrt. Erst Jahre später begriff ich, dass es wesentlich länger gedauert haben musste, mir dabei zuzusehen, als es selber zu machen.“
Mom kicherte und schenkte allen mehr Wein ein. „Wir haben es auf die Reihe bekommen, nicht wahr? Er rechnete vermutlich damit, dass wir ohne ihn zerbrechen würden, aber wir haben es hingekriegt.“
„Das muss hart gewesen sein“, sagte Greg.
„Oh, damals dachte jeder, dass es nicht härter ging. Überall in den Nachrichten nur Scheidungsraten und alleinerziehende Mütter. Diese mitleidigen Blicke, die mir alte Frauen im Kaufhaus zuwarfen. Als hätten Männer nicht schon seit Urzeiten das Weite gesucht.“ Mom stellte die Flasche ein bisschen zu energisch ab. „Nichts für ungut.“
„Keine Ursache“, antwortete Greg in einem überfreundlichen Tonfall. „Natalie wird schon nichts passiert sein, Joanne.“
„Ja, ihr geht’s bestimmt gut“, sagte Mom. Und dann, als wäre es ihr gerade eingefallen: „Im Frühling sehen wir sie wieder, jede Wette. Bis dahin hat sie genug von dem Elend.“
Ich dachte an Nat, das unterstrichene Häufchen Elend, und war wieder still. Ich wollte das Mom nicht sagen, aber ich wusste, dass wir sie im Frühling nicht wiedersehen würden.
Der Schnee fiel, bevor die nächste Postkarte eintraf, aber in der Nähe von Buffalo will das nicht viel heißen, nicht wahr? Mit uns reist jetzt ein Mädel namens Tammy , stand da. Sie meint, sie hätte ’ne Menge Zeit bei uns im westlichen New York verbracht, sie ist sogar in Mumford gewesen! Sie war eigentlich auf dem Heimweg nach Florida, aber hat dann ihre Meinung geändert und beschlossen, mit uns nach Westen zu ziehen. Unterwegs trafen wir dann ein Kind, das sich verlaufen hatte, einen kleinen schwarzen Jungen, vielleicht zwei Jahre alt, der bis auf ein Paar Unterhosen nichts anhatte. Ich wollte ihm helfen, aber er wollte nicht mit mir reden und rannte davon, viel schneller als ich einem Kleinkind je zugetraut hätte. Beth sagt, hier draußen würden mehr Eltern ihre Kinder verlieren, als man glaubt, und dass es nichts gebe, was ich tun könnte. Es schien ihr allerdings nahezugehen. Die Worte am Ende waren gestaucht, als hätte sie versucht, so viele wie möglich dorthin zu zwängen, und das Werd dich immer lieb haben Kleine Mandy zog sich bis in den Adressteil der Karte. Ich drehte sie um und betrachtete das Motiv, ein Dampfschiff auf dem Mississippi. Kein Wort darüber, ob es dort, wo sie war, schneite, aber auf Dampfschiffen fiel niemals Schnee, oder?
Nur für alle Fälle kaufte ich ihr zu Weihnachten ein Paar gestrickte lila Handschuhe mit knallgrünen Schildkröten darauf und eine große Stange Toblerone. Ich packte noch drei Ahornblätter aus dem Vorgarten dazu, die ich aufbewahrt hatte: ein rotes, ein orangenes und ein gelbes, an dem anfangs sogar noch ein bisschen Grün dran gewesen war. Ich wickelte das Päckchen ein und legte es unter mein Bett, nur für alle Fälle.
Natürlich verbrachten Mom und ich den Weihnachtsmorgen letzten Endes allein. Greg war bei seiner Schwester und ihrem Mann und den Kinder, hatte aber versprochen, zum Abendessen vorbeizuschauen. Er hatte uns geholfen, einen Baum aufzustellen, der uns beide überragte, aber das bedeutete bloß, dass die Geschenke zweier Leute darunter nur noch einsamer wirkten.
Die Handschuhe, die ich von Mom bekam, waren aus schwarzem Leder, mit lilafarbenem Besatz und einem Futter aus Kaschmir. Beim Anprobieren waren sie ein bisschen zu klein, aber sie fühlten sich an, als würden sie sich noch weiten. Sie hatte mir außerdem Stiefel besorgt, bei denen ich am Karton erkannte, dass sie aus dem Outlet-Store stammten, aber sie wirkten praktisch wie neu. Dazu gab’s noch eine Handtasche aus Leder, in die ein Vogelmotiv eingearbeitet war.
„Die sind umwerfend“, sagte ich, und fuhr mit den Händen zurück in die Handschuhe, um erneut das Kaschmir zu spüren. „Dankeschön.“
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