Er holte es am Morgen bei der Frühschicht ab und ich rechnete nicht damit, ihm noch einmal zu begegnen. Doch die Woche darauf kam er zurück, als ich wieder die Spätschicht hatte. Er schnappte sich einen dieser Nuss-Karamel-Riegel, die wir an der Kasse verkauften – offensichtlich nur ein Vorwand. Mir war noch nie jemand begegnet, der die Dinger tatsächlich aß.
„Ich hatte nichts damit zu tun“, sagte er, während er mir einen Fünf-Dollar-Schein gab. „Der Typ, der uns die Pillen verkauft hatte, war’s; ich wusste von nichts.“
Ich verstand, dass da Worte aus seinem Mund kamen und dass er den Kopf schüttelte, doch ich hörte nicht wirklich hin. „Aber du hast sie zurückgelassen. Du hättest sie nicht dort draußen lassen sollen.“
Er schüttelte den Kopf heftiger, wobei seine schmierigen Haare gegen seine Wangen flogen. „Ich konnte absolut nichts tun, Mandy. Was hätte ich tun sollen? Keinem tut es mir leid als mir, aber was hätte ich tun sollen? Nichts konnte ich tun, gar nichts.“ Er wiederholte diesen einen Satz in abgewandelter Form, bis ich ihm den Nussriegel in die Hand drückte. Dann schaute er darauf, als hätte er noch nie einen gesehen, und ging hinaus.
Als ich um Neun den Parkplatz betrat, klemmte unter meinem Scheibenwischer die rote Verpackung des Nussriegels, zerrissen in die grobe Form eines Herzens. Ich zog sie heraus und warf sie in einen Mülleimer. Ich verstand schon; ich sollte sie mit nach Hause nehmen und für immer behalten, vielleicht ebenfalls in ein Buch stecken – und nun begriff ich, wieso Mom nichts davon hielt.
Der verrückte Teil von mir fragte sich, ob Nat irgendwie in ihrer nächsten Postkarte darüber Bescheid wusste, aber sie erwähnte nichts dergleichen. Sie kam aus San Francisco und zeigte zwei Männer mit freiem Oberkörper in Sonnenbrillen und Cowboyhüten sowie einen versauten Spruch, den ich in Gesellschaft von Mom vermeintlich nicht kapiert hätte. Ich hab Alejandro genauso einen Hut besorgt, weil er aus Texas kommt. Besorgt, also geklaut und nicht gekauft. Die gute alte Nat. Er meinte zu Beth, sie solle ihm auch ihre Wildlederjacke leihen, aber natürlich denkt sie nicht daran. Ich liebe San Francisco, Mandy. Ich wünschte, wir könnten bleiben. Wir hatten hier nur ein schlechtes Erlebnis, nämlich, dass Tammy vor ein paar Tagen verschwunden ist. Vielleicht hat sie einem Cop ihren Namen verraten? Na, jedenfalls hat das Beth natürlich mitgenommen und sie sagt, mir müssen in Bewegung bleiben, weiter Richtung Norden.
Ich bin mir nicht sicher, wieso. Aber mal Seattle zu sehen, wäre vermutlich schon klasse.
Ich weiß nicht genau, warum gerade das mein Gedächtnis ankurbelte, es war ja nicht so, dass ich die Zeitung las oder Nachrichten schaute. Aber es hatte Schlagzeilen gemacht, also hatte ich es vielleicht im Augenwinkel gesehen oder aus dem Radio eines Autos mit geöffneter Scheibe gehört, oder ein paar Frauen hatten bei McDonald’s in der Schlange darüber getratscht, während ich für meinen Kaffee anstand. Nette alte Damen unterhalten sich beim Shoppen gern über die tragischsten, ekligsten und brutalsten Kriminalfälle. Ich sagte zu mir selbst, okay das war’s, du hast den Verstand verloren, aber ging trotzdem in die Bibliothek und besorgte mir die Buffalo News von Montag vor zwei Wochen.
Noch vor meiner Geburt hatte man die verscharrte Tammy Jordan in einem Feld etwas außerhalb von Honeoye Falls entdeckt, und mein ganzes Leben lang war sie Honey Namenlos gewesen, eine vage Erscheinung, die nur Beachtung fand, wenn ein TV-Reporter gelangweilt zu neuen Hinweisen aufrief. Bis vor zwei Wochen, als sie endlich identifiziert werden konnte – eine alte Frau hatte sich eine vor Ewigkeiten aufgenommene Folge von Unsolved Mysteries angeschaut und erkannte in dem computer-rekonstruierten Bild von Honey Namenlos die schiefen Zähne und das Lieblings-Shirt ihrer ausgerissenen Nichte.
Wir kennen ihren Namen , lautete die Schlagzeile. Ihre sterblichen Überreste sollten nun exhumiert und überführt werden, um sie dort zu beerdigen, wo sie hingehörten, in einem anständigen Grab mit einer anständigen Inschrift. Es ärgerte mich, dass niemand vorhatte sie zu fragen, ob sie überhaupt zurück wollte, bis mir klar wurde, wie dumm sich das anhörte.
Ich saß in der Bibliothek, bis sie schloss, weil ich nicht allein sein wollte. Danach ging ich nach Hause und starrte auf die mittlerweile eingerollten, glanzlosen Bilder von Sleeping Bear Dunes, die noch immer an die Rückseite meiner Tür gepinnt waren. Irgendwo zwischen diesen dunklen Kiefern hatte er Nat einsam und allein zurückgelassen. Und sie hatte einen Weg dort heraus gefunden, um mir trotz allem weiterhin zu schreiben. Sie hatte mich lieb und vermisste mich.
Dieses Mal musste ich nicht einmal meinen Kopf einziehen, um weiterzumachen. Er war bereits eingezogen. Ich kündigte nicht im Tractor Supply, weinte nicht in der Dusche, vergaß nicht zu essen, denn ich hatte all diese Dinge bereits getan. An meinem Verhalten änderte sich eigentlich nur, dass ich Zuhause das Licht nicht mehr anmachte. Ich wusste, wo sich alles befand, und es gab niemanden sonst, der etwas sehen musste. Außerdem wurden die Tage jetzt länger.
Ich hatte ein wenig Angst davor, dass sie aufhören könnte mir zu schreiben, jetzt, da ich dahintergekommen war. In einem Märchen, so schien es mir, würde genau das passieren. Aber so zu denken war verrückt. Und gleich in der nächsten Woche erreichte mich eine weitere Postkarte, diesmal aus Klamath Falls. Darauf ein See, hinter dem sich ein schneebedeckter Berg erhob.
Irgendetwas geht hier vor sich, Mandy. Wir sind auf diese ganze Gruppe von Frauen gestoßen … überwiegend Frauen und junge Mädchen, dazu noch einige Kinder und Kerle. Ein paar von ihnen kannten Beth und verhielten sich so, als hätten sie ihre Ankunft erwartet. Sie stellte mich und Alejandro allen vor. Alle sind aufgeregt. Es ist, als wären wir auf dem Weg zu einem Festival oder so. Wie es scheint, hat hier eine indianische Frau namens Anna das Sagen, die musst du echt erlebt haben – sie kümmert sich um alles und jeden und bringt uns so schnell nach Norden, dass ich kaum Zeit fand, dir das hier zu schicken. Ich werd so schnell ich kann herauskriegen, was hier los ist, und dir dann wieder schreiben; ich wette, das wird großartig! Ich vermisse dich so sehr, Kleine Mandy.
Ich ging weiterhin arbeiten, aber die Leute fragten mich, ob ich geschlafen hatte. Man sah es mir an. Wenn das Telefon klingelte, nahm ich nicht ab. Ich fühlte mich, als bräuchte ich nicht einmal Kaffee, dennoch ertappte ich mich dabei, mehr zu trinken als jemals zuvor, um mich dann, so oft es nur ging, aus dem Tractor Supply an die frische Luft zu stehlen. Ich fing an, Zigaretten zu schnorren und Raucherpausen zu machen, aber Leute in der Raucherpause wollten reden, und das fiel mir schwer, wo ich doch von etwas erfüllt war, über das niemand mit mir reden konnte außer Nat. Von Bedeutung war nur noch eins, und zwar die Tage abzuhaken, bis ich die nächste Postkarte bekam.
Sie erreichte mich gerade rechtzeitig. Sie war aus Seattle und in Schwarz-Weiß, ein sonderbar altmodisches Motiv mit Pferden auf der Straße und Männern, die Hüte trugen, dazu irgendein offiziell aussehendes Gebäude. Alle hellen Bereiche, sowohl der Himmel zwischen den Gebäuden als auch das fahlere Grau der Bürgersteige, waren übersät mit auf dem Kopf stehenden Buchstaben, in einer Schrift schmaler als alles, was ich jemals von Nat gesehen hatte. Der Text quoll von der Rückseite herüber, wo sich von Rand zu Rand winzige – na ja, zumindest für Nats Verhältnisse winzige – Buchstaben drängten, wenn man von dem Kästchen mit meiner Adresse und dem kleinen Feld für die Briefmarke absah. Über einen Teil war ein Sticker mit einem Strichcode geklebt worden, aber es gelang mir, ihn vorsichtig abzuziehen, ohne dass etwas von der Tinte darunter abblätterte.
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