„Sie ist also noch jung?“
„Um die Dreißig.“
„Dann kam sie auf die Welt, als Frankenstein schon gestorben war“, schmunzelte der Vater. „Was war denn anders in der Kunst, nachdem der moderne Mensch mit Göttern und Geistern gebrochen hatte?“
„Das Abstrakte und das Individuum.“
„Das ist mir zu allgemein. Erkläre es mir.“
„Es geht darum, dass der Künstler schon in der Antike einem Gesetz gehorcht. Er ist einer göttlichen Harmonie verpflichtet, deren Spuren er in der Natur suchen muss. Zur Harmonie hat der Mensch keinen Zugang, denn sie ist irgendwo im Kosmos verborgen. Gott schuf die Natur nach seinem Gesetz. Der Künstler muss diesem Gesetz folgen. Das ging während mehr als zwei Jahrtausenden so. Aber plötzlich lehnen sich die Menschen gegen diesen göttlichen Maßstab auf. Zuerst ist natürlich der Teufel los, als die Impressionisten und Expressionisten loslegten. Ich muss dir wohl nichts von entarteter Kunst erzählen. Das hast du ja selber miterlebt.“
Der Vater überhörte den letzten Satz.
„Aha. Mit Abstraktion meinst du also die Abwendung von der Natur. Und das Individuum?“, fragte er.
„Nach dem zweiten Weltkrieg lag nicht nur die Welt in Trümmern, sondern auch die Gesellschaft und die Kultur. Niemand, der darüber nachdachte, glaubte noch an ein göttliches Gesetz. Heute macht der Künstler, was er will, und das Publikum akzeptiert das inzwischen auch. Er kann wild drauf los schmieren oder eine pedantische Geometrie zeichnen oder ein gefundenes Stück Abfall auf einem Sockel ausstellen.“
„Und was ist damit gewonnen, wenn die Kunst nicht mehr nach harmonischer Schönheit strebt?“
„Letztlich nicht viel. Kunst ist heute leider genauso elitär wie im Mittelalter. Es wird wohl nie so sein, dass alle Menschen Künstler sind. Aber mich interessiert, wie Menschen sich ausdrücken und wie unterschiedlich.“
„Klar. Es ist offensichtlich, dass es dich interessiert. Hast du Pläne in dieser Richtung?“
„Vielleicht studiere ich nach dem Abi Kunsterziehung.“
„Du wirst es durchziehen. Du hast einen langen Atem und einen starken Willen. Mit Rosanna bist du auch schon drei Jahre zusammen.“
„Bald vier Jahre!“, korrigierte Serenus den Vater.
„Du hast dir da etwas Schwieriges ausgesucht.“
„Pass auf, was du sagst.“
„Ich rede nicht von ihr als Mensch. Wir, die Mutter und ich, haben immer respektiert, dass du mit Rosanna zusammen bist. Aber jeder kann sehen, dass sie kein glückliches Mädchen ist.“
„Ich bin froh, dass ihr nie etwas gesagt habt. Ich meine, ihr habt nie etwas gesagt wegen ihrer Familie.“
„Weil sie Italiener sind?“
„Das vielleicht auch. Weil sie eine Plage sind, ganz im Ernst. Giuseppe und Paolo sind Halbstarke oder Kriminelle und der Vater ist ein Psychopath. Rosanna verliert nie ein Wort darüber. Trotzdem spürt man, dass sie zu Hause terrorisiert wird.“
„Und wie wird sie damit fertig?“ fragte der Vater.
„Schlecht. Aber sie hat einen Plan. Sie glaubt, sie kommt heil davon, wenn sie ihr Ziel erreicht. Sie wartet nur darauf, dass sie die Flatter machen kann.“
„Und wie kommst du klar? Ich finde, dass sie seit einiger Zeit ziemlich mürrisch und unzugänglich ist, wenn du mir erlaubst, es so zu nennen.“
„Wir sehen uns ja nicht so oft. Aber wenn sie kommt, taut sie fast immer auf. Sie geht auch nie im Streit weg. Wir haben eigentlich nie lange Knatsch zusammen.“
„Du bist ja offenbar auch ziemlich verrückt nach ihr.“
„Sex ist wichtig. In meiner Klasse gibt es viele Jungs, die Frust schieben. Ich glaube, ich bin der einzige in meinem Jahrgang, der sich austobt.“
Der Vater schmunzelte.
„Ich war früher auch verrückt nach Sex.“
„Früher ist gut“, entfuhr es Serenus.
„Wieso sagst du das?“, fragte der Vater. „Du kannst offen mit mir reden.“
„Vor etwa drei Jahren machte mir dein Leopardenmädchen zu schaffen. Ich nahm dir diese Sache ziemlich übel.“
Der Vater kramte in seinem Gedächtnis und murmelte: „Leopardenmädchen? Kannte ich ein Leopardenmädchen?“
„Erinnerst du dich etwa nicht an das Buch? The Leopard Girl ?“, fragte Serenus. Doch der Vater sah ihn ratlos an.
„Willst du mir nicht auf die Sprünge helfen?“
Serenus erklärte dem Vater, wie er das Buch gefunden und gelesen und was es bei ihm ausgelöst hatte. Dann umriss er mit ein paar Sätzen das traurige Schicksal der Missionarstochter. Der Vater pfiff durch die Zähne.
„Mensch, Serenus, das tut mir leid. Wahrscheinlich liegt das Buch immer noch dort. Ich habe es nie gelesen. Ich kann mich vage an die Bilder erinnern. Das ist ja ein Ding! Dein Onkel hat es mir mal geschenkt oder ausgeliehen. Du weißt schon, Onkel Goldfinger mit dem Aston Martin.“
Serenus sah keinen Grund, an der Aufrichtigkeit seines Vaters zu zweifeln.
Die Mutter wusste es. Serenus kam von der Schule nach Hause. Als sie ihn ansah, wusste er, dass er das, was sie wusste, nicht hören wollte. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war bestürzt von einem unermesslichen Leid. Er fühlte sogleich, dass ihr Leid nichts Anderes war, als ein schreckliches Mitleid, das sie für ihn, ihren Sohn, empfand. Es ging weder um den Vater noch um den Bruder. Wenn ihnen etwas zugestoßen wäre, hätten sie ein geteiltes Leid gehabt, dann hätte die Mutter seinen Trost ebenso gebraucht wie er den ihren. Als sie ihn ansah, wusste er, dass jemand verloren war, und dass dieser jemand er selber war. Sie begann lautlos zu weinen. Tränen quollen aus ihren Augen und liefen über ihr Gesicht. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber Serenus wich zurück. Er drehte sich um und ging zur Tür. Er wollte zurück zur Schule, um nochmals nach Hause zu kommen. Er wollte erneut heimkehren und seine Mutter lächeln sehen, so wie sie ihm gestern und vorgestern zugelächelt hatte. Stattdessen drückte er seine Stirn gegen die Tür und fragte mit einer ihm selber fremden Stimme: „Rosanna?“
Die Mutter kam näher und blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.
„Rosanna ist fortgegangen. Sie hat alle persönlichen Dinge mitgenommen. Sie hat niemandem ein Wort gesagt. Die Polizei hat herausgefunden, dass sie einen Flug nach Rom gebucht hatte. Aber sie werden sie nicht suchen, denn sie hat ja nichts verbrochen. Sie ist achtzehn und darf gehen, wohin sie will. Ich weiß es von der alten Frau, die drüben wohnt, die Nachbarin von Rosanna und ihrer Familie, Frau Tagliaferri, die mit dem Pudel. Sie kam herüber, um es mir zu erzählen.“
„Ich warte, bis sie zurückkommt“, sagte Serenus ruhig. Er ging an seiner Mutter vorbei hinauf in sein Zimmer, legte die Schultasche auf den Schreibtisch, warf sich auf sein Bett und schloss die Augen. Hier bleibe ich liegen, dachte er, bis ich Rosannas Stimme höre. Unten ging die Mutter leise in die Küche. Dann verstarb jedes Geräusch.
Es gab keine Hoffnung mehr. Rosanna hatte die Flucht ergriffen. Allein die Tatsache, dass die alte Tagliaferri ein fremdes Haus betrat, um eine solche Nachricht zu überbringen, war Beweis genug. Sie wohnte im gleichen Mietshaus und Rosanna nannte sie Tante, obwohl sie nicht verwandt waren. Jetzt begriff er, warum sie sich ihrer Sache so sicher gewesen war. In den letzten Wochen hatte sie mehrmals gesagt, dass die schlimmste Zeit ihres Lebens bald zu Ende sei. Zu ihrem Geburtstag wollte Serenus für sie beide Freundschaftsringe kaufen. Aber sie sagte zu ihm, dass sei Kinderkram und passe nicht zu ihrem Erwachsenwerden. Sie wünsche sich etwas, was sie ihr ganzes Leben lang tragen könne. So suchte er ihr goldene Ohrstecker mit Steinen aus hellblauem Topas aus. Als er ihr das Geschenk überreichte, packte sie es aus und zog sich den Schmuck an.
Sie sagte zu ihm: „Ich behalte sie an. Von heute an werde ich denen nichts mehr erklären. Du musst mir eines glauben, Serenus. Ich würde niemals etwas tun, um dich zu verletzen. Du darfst niemals denken, ich wäre böse mit dir oder ich würde dich nicht mehr lieben.“
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