Rosannas Anspannung wurde auch nicht besser, als sich ihre Eltern trennten. Es kam zu Alkoholexzessen und Gewalttätigkeiten ihres Vaters, die schon bald jedes Maß überschritten. Immer öfter musste die Polizei einschreiten und schließlich verfügte die Staatsanwaltschaft ein Hausverbot. Rosannas Vater zog vorübergehend in ein Männerwohnheim und kreuzte nur noch gelegentlich auf, um vor dem Mietshaus Radau zu machen.
Als ihr Vater endlich fort war, übernahmen die beiden Brüder vollends das Zepter und wurden dabei von ihrer Mutter auch noch unterstützt. Rosanna erklärte Serenus, dass es ihr zu anstrengend sei, ihnen Widerstand zu leisten. In ein paar Monaten habe sie die Abschlussprüfungen hinter sich und dann sei sie volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Er sagte nichts zu solchen Äußerungen, denn er hatte noch keine Vorstellung von der Zukunft. Ihm war wohl zu Hause bei den Eltern. Das Gymnasium würde noch zweieinhalb Jahre dauern und eine unabhängige Rosanna, die genug Geld verdiente, um sich eine eigene Wohnung zu mieten, konnte er sich gar nicht vorstellen. Aber er wusste, dass es ihr bitterer Ernst war. Sie hatte nur noch ihr Diplom und ihren achtzehnten Geburtstag im Kopf.
An einem Abend im Mai wollte der Vater, dass er ihn zum Biergarten am Fluss begleite. Serenus stand der Sinn überhaupt nicht danach. Er hatte Rosanna seit über zwei Wochen nicht gesehen und wollte sie nicht verpassen, falls sie in den nächsten Stunden auftauchen sollte. Als der Vater sein Zögern bemerkte, sagte er: „Ich habe dich nicht um deine Zustimmung gebeten. Ich habe beschlossen, dass heute der Tag ist, an dem der Filius seinem fünfzig Jahre älteren Vater Gesellschaft leistet. Geh und hol dir eine Jacke, falls es nachher kühl wird.“
Es war nicht Gehorsam oder Gefälligkeit, dass Serenus sogleich folgte. Er war neugierig und fühlte sich sogar ein wenig geschmeichelt. Serenus war etwa vierzehn gewesen, als er The Leopard Girl entdeckt hatte, und ging nun auf die siebzehn zu. In diesem ganzen Zeitraum hatte er mit dem Vater kein bedeutsames Gespräch geführt.
Der Biergarten war nur halb besetzt und so fanden sie eine ruhige Ecke, wo sie ungestört plaudern konnten. Sie tauschten die üblichen Belanglosigkeiten aus. Der Vater erzählte, womit er sich zurzeit beschäftigte, und wechselte dann das Thema.
„Woher kommt eigentlich neuerdings dein Interesse für die bildende Kunst?“
„Ach, das weißt du?“
„Die Mutter erzählt mir hin und wieder etwas.“
„Und mir sagte sie, dass du dich zu ihrem Leidwesen nie für moderne Malerei interessiert hast.“
„Es ist ja schon ein Wunder, dass ich mich auf meine alten Tage mit exotischer Folklore befasse. Aber früher interessierte ich mich ausschließlich für Technik.“
„Welche wiederum für mich kein Thema ist.“
„Weißt du, Serenus, ich musste mich fünfzig Jahre lang mit dem technischen Fortschritt befassen, von Berufes wegen. Aber meine übrige Lebenszeit möchte ich anderen Dingen widmen.“
„Es ist wegen der Lehrerin für Kunsterziehung. Sie ist gigantisch. Sie hat einfach begriffen, was abgeht.“
„Vielleicht drückst du dich so aus, dass auch ein alter Mann dir folgen kann“, sagte der Vater und lachte.
„Vor Ostern ging Gisela, so heißt die Lehrerin, mit uns in eine Fabrik, wo gebrauchtes Styropor wiederverwertet wird. So etwas Alltägliches und Unwichtiges wie Styropor! Ich hatte keine Ahnung. Das gibt es in allen Farben und Formen. In dieser Fabrik stellen sie aus den Abfällen nur Füllmaterial her. Sie machen Chips, Bohnen, Würfel, Kugeln und anderes. Das Zeug wird leicht eingefärbt und ist pastellfarben: zartrosa, schwefelgelb, mintgrün, fliederfarben. Und es gibt Tonnen davon. Eine ganze synthetische Galaxis!“
„Und was hat das mit Kunst zu tun?“
„Klar, dass du das fragst. Zuerst einmal gar nichts. Aber Gisela sagt, wenn die Griechen und die Römer mit simplen Steinen Kunst machten, Statuen und Mosaike zum Beispiel, dann sollten die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Vorstellungen mit Styropor ausdrücken.“
„Also habt ihr im Zeichenunterricht Bilder aus Styropor gemacht...“
„Gisela hatte die Erlaubnis vom Schuldirektor. In der Kunsterziehung gibt es ein Budget für Farben, Material, Museumsbesuche und so weiter. Jeder Schüler durfte zehn Kilo Styropor mitnehmen. Ich habe zwei riesige Mülltüten mit Löffelbiskuits abgeschleppt.“
„Löffelbiskuits?“
„Ich nenne sie so. Abgerundete Stangen, etwa fünfzehn Zentimeter lang, von beiger Farbe. Sie sind ein wenig unregelmäßig und sehen aus wie Körperteile. Wie Unterarme von Spielzeugpuppen, ohne Hände.“
„Und wie soll ich mir jetzt ein Kunstwerk aus Löffelbiskuits vorstellen?“
„Ich habe in der Eingangshalle der Schule auf dem grauen Kunststoffboden einen Kreis von zweieinhalb Meter abgemessen. Und dann habe ich mit Heißkleber die Teile senkrecht fixiert. Jedes Organ... ich meine, jedes Löffelbiskuit hat acht Zentimeter Abstand zum nächsten.“
„Ich kann es mir nicht vorstellen.“
„Du kannst es Dir gern anschauen. Ich darf es bis zu den Pfingstferien stehen lassen.“
„Hat es vielleicht etwas Anstößiges?“
„Total. Man denkt sofort an männliche Geschlechtsteile. Aber dafür sind die Styroporstangen ein wenig zu klein, so dass das Ganze irgendwie lächerlich wirkt.“
„Und was sagen die Leute, ich meine, die Schüler und die Lehrer?“
„Sie haben Spaß daran und finden es toll. Gisela hat übrigens daneben eine Tafel montiert. Darauf steht TAUSENDUNDEIN WICHTIGTUER.“
„Warum hat Deine Lehrerin dem Dingsda einen Namen gegeben?“
„Mir fiel nichts Gescheites ein. Ich hatte mir schon Titel überlegt. ‚Himmelwärts’, zum Beispiel, oder ‚Tausend Sünden’ oder ‚aufrechte Kerle’. Aber Gisela sagte, wir sollten es ins Absurde ziehen, damit niemand daran Anstoß nimmt.“
Der Vater dachte nach.
„Es gibt schon etwas Gemeinsames zwischen Deiner Arbeit und einem antiken Mosaik. Ich habe in Rom eines gesehen, das kreisrund war und aus verschlungenen Linien in zwei Farben bestand.“
Sie schwiegen eine Weile und Serenus überlegte, was er dem Vater erwidern sollte.
„Man kann immer etwas Neues auf etwas Altes beziehen. Man nimmt ein Bild von Dalí und hält eines von Hieronymus Bosch daneben. Aber Gisela sagt, dass nicht die Kontinuität das Interessante an der Kunst sei, sondern die Brüche.“
Der Vater sah seinen Sohn fragend an und Serenus fuhr fort.
„Die Welt war während hundert Jahren ein Versuchslabor, sagt Gisela. Zwischen 1850 und 1950 wurde nur experimentiert. Hundert Jahre Frankenstein, nennt sie es. Dazu gehören die Psychoanalyse und der Marxismus, die Zwölftonmusik und der Jazz, das Bauhaus und der Expressionismus, die Vollnarkose und das Penicillin, die Atomphysik und die Konzentrationslager.“
Der Vater runzelte die Stirn.
„Die ganze Moderne war nichts als ein blasphemisches Monstrum, das sich selbständig gemacht hat?“
„Es musste einmal einen Bruch geben. Seit den Pharaonen war alles auf Herrscher, auf Götter und auf das Jenseits ausgerichtet. Man kann doch nicht dauernd alles einer Idee unterordnen.“
„Was weißt du denn von dieser Gisela?“ wollte nun der Vater wissen.
„Als Kind nahm sie Ballettstunden. Während dem Gymnasium trainierte sie wie eine Verrückte und ging nach dem Abi auch wirklich als Tänzerin zum Theater. Dann musste sie zwei Jahre lang wegen einer Verletzung aussetzen. Mehr aus Langeweile begann sie ein Studium in Kunstgeschichte. Sie ging nicht ans Theater zurück, sondern studierte weiter und lebte davon, dass sie Gymnastik- und Ballettunterricht für Kinder gab. Seit zwei Jahren arbeitet sie nun am Humboldt-Gymnasium. Wir waren ihre erste Klasse.“
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