„Ich weiß, Rosanna. Du hast doch immer gesagt, du seist die Frau, die noch nach ihrem Tod weiterliebt.“
Sie sah in ganz seltsam an und erwiderte. „Jetzt bin ich die Frau, die weiterliebt, solange sie lebt.“
Während ihrer Prüfungen trafen sie sich einmal und danach noch einmal. Serenus hatte sich gefragt, wo sie auf einmal diese Ruhe hernahm. Es war jetzt eine Woche her, dass sie ihm ihren Gesellenbrief gezeigt hatte.
„So“, sagte sie gleichgültig. „Das war es also. Ich hoffe, dass der Kampf irgendetwas Gutes hatte.“
Das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern, welche Worte sie zum Abschied gewählt hatte. Es fiel ihm nicht mehr ein. Sie war schnell gegangen und hatte sich ganz flüchtig verabschiedet, so als ob sie gleich wiederkäme.
Er lag den ganzen Nachmittag auf dem Bett. Immer wieder sah er das Bild vor sich. Wie sie im Flugzeug saß und die Stecker mit den blauen Steinen trug. Er kannte Rosanna so gut. Er wusste, dass sie während des ganzen Fluges geweint hatte. Dieses Bild von dem Mädchen mit dem glitzernden Topas im Ohr, das im Flugzeug sitzt und schluchzt, tauchte noch jahrelang in seiner Vorstellung auf.
Wie immer, wenn er Kummer hatte, ließ ihn die Mutter in Ruhe. Erst als es Abend wurde, kam sie zu ihm ins Zimmer und setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie hielt einen Schwenker mit Brandy in der Hand. Etwas schüchtern sagte sie: „Als ich jung war, habe ich Opas Cognac ausgetrunken, wenn ich traurig war. Es half.“
Serenus setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er nahm das Glas aus ihrer Hand und trank in winzigen Schlucken. Er fühlte, wie sich die Wärme des Alkohols in seinem Bauch ausbreitete und wie sich die Gedanken in seinem Kopf zur Seite legten.
„Ich mochte euch als Paar.“ sagte die Mutter leise. „Wenn es auch nicht einfach war mit der ganzen Heimlichkeit. Am Anfang war ich besorgt. Ich dachte, du wärst zu jung für so etwas. Ihr habt euch abgesondert. Ihr lagt zusammen im Bett oder hattet Streit. Das passte nicht in dieses Haus. Aber gerade deswegen mochte ich sie mit der Zeit. Sie gab dir etwas, was du von uns nicht bekommen konntest. Dieses Lebendige, Feurige, Laute. In meinem Leben gab es das nie.“
Darauf wusste Serenus nichts zu antworten. Was sie sagte, war richtig. Auch dass sie von Rosanna wie von einer Toten sprach, war angemessen. Wäre sie ums Leben gekommen, dann wäre er jetzt fast so etwas wie ein Witwer. Das wäre vielleicht einfacher. Dennoch wollte er Rosanna am Leben wissen. Eine Tote zu betrauern, das war nicht sein Ding. Er wollte unglücklich sein, weil das Unglück in dieser Lage der einzig mögliche Weg war.
„Ich werde leiden, Mutter“, sagte er schließlich. „Das wird dauern. Vielleicht so lange, wie ich hier bei euch wohnen bleibe. Solange ich hier lebe, wird auch Rosanna immer anwesend sein. Niemand kann es mir ersparen. Ich kann es euch auch nicht ersparen. Aber in zwei Jahren mache ich mein Abi und danach gehe ich für ein Jahr nach Italien. Und jetzt möchte ich noch einen Schnaps.“
In den Tagen vor den großen Ferien wurde im Klassenzimmer mehr getuschelt und gekichert als sonst. Die Zeugnisse waren schon verteilt worden und niemand nahm den Unterricht noch ernst. Die Lehrer gaben keine Hausaufgaben mehr auf und hielten keine Prüfungen mehr ab. Zeichnen war das das letzte Fach am Freitagnachmittag. Serenus trödelte mit seinen Sachen so lange herum, bis die anderen Schüler gegangen waren. Gisela bemerkte es und kam zu seinem Tisch.
„Ich habe dir eine 1.5 gegeben, weil du mit den letzten zwei Arbeiten nicht fertig geworden bist. Für dein Können und deine Fortschritte hättest du schon eine Eins verdient“, sagte sie. Serenus schüttelte irritiert den Kopf.
„Ich will keine halben Punkte geschenkt.“
„Ganze Punkte kann ich dir nicht mehr geben.“
Sie lachte. Serenus begriff sofort, dass dies seine Gelegenheit war.
„Wie viele ganze Punkte habe ich denn bei dir?“, fragte er ohne zu zögern. Auch jetzt lachte sie.
„Ich bin Deine Lehrerin...“
Wieder fiel ihm die richtige Antwort ein.
„Ich bin dein Schüler, aber nur noch heute. Morgen beginnen die Ferien.“
„Na und?“
„Kein Klassenzimmer mehr und auch kein Lehrerzimmer.“
„Stimmt“, sagte Gisela etwas unsicher, „wir werden uns sieben Wochen lang nicht über den Weg laufen.“
„Ich wollte dir auch nicht über den Weg laufen.“
„Was möchtest du dann?“, fragte sie.
„Ich möchte dich in eine Kunstausstellung mitnehmen, Gisela.“
„Ach ja?“
„In der Staatsgalerie ist dieses Riesending. Da möchte ich nicht alleine hin.“
„Du meinst Ausblicke . Ich habe die Ausstellung schon zweimal besucht. Warum sollte ich sie mir ein drittes Mal ansehen?“
„Damit ich dich Dinge fragen kann.“
Gisela antwortete nicht, sondern wartete auf eine Erklärung.
„Kannst du mir zeigen, wie sie es machen? Kannst du mir erklären, wie solche Bilder entstehen?“
„Das ist alles? Du willst nur wissen, wie sie dabei vorgehen? Wie erschaffen Warhol und Lichtenstein und Riley und Twombly ihre Werke? Ist das das deine Frage?“
Serenus sah sie nur an. Sie hatte verstanden, was sein Wunsch war.
„Und wozu?“
„Weil ich es auch ausprobieren möchte.“
„Ich denke darüber nach. Ruf mich am Wochenende an. Und jetzt zieh’ Leine.“
In der Nacht vor seiner Verabredung mit Gisela träumte er diesen unsinnigen Traum. Er rannte eine Treppe hinauf auf einen gläsernen Eingang zu. Als er die Türen erreichte, hielt ihn ein uniformierter Wächter auf. Serenus wollte ihm entwischen, aber der Mann packte ihn bei den Handgelenken. Über ihnen an der Wand hing eine große Uhr mit digitaler Anzeige. Sie zeigte 16.55. Der Türsteher sagte: „Es gibt keine Ausblicke . Der Papst war hier und hat alles konfisziert. Der Jugendschutz hat ausgedient.“
Gisela saß schon im Museumscafé und erwartete ihn. Vor ihr auf dem Tisch lagen zwei Freikarten, die sie über die Schule organisiert hatte. Zum Ausgleich übernahm Serenus die Getränke. Als er sich hingesetzt hatte, erläuterte Gisela, was ihm bevorstand.
„Wir beschränken uns auf den Schaffensprozess. Damit haben wir genug zu tun. Alles andere musst du vergessen, Stil, Bildinhalt, Persönlichkeit und Lebensgeschichte des Malers.“
Serenus war einverstanden.
„Ich habe keine Lust“, fuhr sie fort, „dir zu jedem Bild einen Vortrag zu halten. Wir drehen den Spieß ein wenig um.“
Er sah sie fragend an.
„Ich erkläre dir jetzt, wie du sehen musst. Wie ein Geologe. Du weißt wohl, was Sedimente sind?“
Serenus nickte.
„Bilder sind wie der Meeresgrund. Der Künstler trägt eine Schicht nach der andern auf. Zuunterst ist die Leinwand, die Pappe, das Holz oder sonst etwas. Darauf wird der Grund aufgetragen. Der Grund selber kann schon aus mehreren Schichten bestehen. Dann malt der Künstler das erste Sediment mit einer oder mehreren Farben. Vielleicht lässt er diese erste Schicht trocknen, aber vielleicht ist sie noch nass, das kann man sehen, wenn er die nächste Schicht aufträgt. Und so geht das weiter. Man kann fast bei jedem Bild herausfinden, welches Sediment schon fertig war und welches als nächstes dazukam. Besonders spannend ist das bei den Mischtechniken, wo Öl, Wasser und Stift in wechselnder Folge benutzt wurden. Aber auch beim Siebdruck sieht man gut, welche Farbe über der anderen liegt. Du wirst sehen, dass diese Sedimente das Wesen der modernen Kunst ausmachen.“
Serenus war verblüfft. „Aber die Alten haben doch auch in solchen Schichten gemalt“, wandte er ein.
„Nur, wenn es technisch nicht anders zu lösen war. Wenn sie konnten, malten sie nebeneinander, nicht übereinander. In der Moderne und in der Gegenwart wird mit dieser Überlagerung Tiefe und Dichte erzeugt. Im Mittelalter und in der Klassik war das anders. Aber das müsstest du eigentlich wissen.“
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