„Rosanna war weiter als ich, entwicklungsmäßig, meine ich. Das habe ich erst in letzter Zeit begriffen. Ich bin nur ein Gymnasiast. Ich lebe von Schulstunde zu Schulstunde und von Ferien zu Ferien. Ich habe keinen Ärger und muss keine Probleme lösen. Bei Rosanna war das anders. Sie musste sich überlegen, was für ein Leben sie leben wollte. Das wusste ich nicht. Oder doch? Vielleicht ahnte ich es, aber ich kümmerte mich nicht darum. Woher sollte ich denn wissen, dass sie um ihr Leben kämpfte? Weiß ich überhaupt, was es heißt, zu kämpfen? Rosanna hatte verstanden, dass sie eine einsame Entscheidung treffen musste, weil sie nicht mit mir rechnen konnte. Ich habe sie verraten, indem ich einfach kindisch und gedankenlos war.“
„Ihr seid ein erstaunliches Paar“, fasste Gisela zusammen. „So etwas gibt es nur selten. Es macht mich glücklich, dass es überhaupt möglich ist. Es gibt wenig Jungs zwischen dreizehn und siebzehn, die sich so auf ein Mädchen einlassen und eine solch tiefe Bindung eingehen. Ich kenne auch keine Mädchen zwischen vierzehn und achtzehn, die sich so vorbehaltlos für einen Mann entscheiden. Du hast etwas Einzigartiges erlebt mit Rosanna und für sie gab es nichts Besseres als dich.“
„Das mag schon sein“, erwiderte Serenus, „aber es ist ein Problem. Jetzt ist es ein Problem, fürchte ich.“
Gisela sah ihn neugierig an.
„Für mich gibt es kein anderes Mädchen. Ich hänge an ihr. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie abgehauen ist. Ich weiß, dass sie nicht zu mir zurückkehrt. Ich gehe weiterhin zur Schule und erledige meine Dinge. Aber ich weiß nicht mehr, was aus mir werden soll. Rosanna zu lieben, ist mir noch wichtiger geworden, jetzt, wo es sie nicht mehr gibt.“
„Ich weiß auch nicht, was aus dir werden soll“, erwiderte Gisela. Ihre Ratlosigkeit war augenscheinlich.
„Was du mir heute von den Sedimenten erklärt hast, wird mir vielleicht weiterhelfen. Ich denke, dass die Seele auch wie ein Meer ist, das Stoffe ausscheidet, die sich in Schichten ablagern: Zuneigung, Enttäuschung, Leidenschaft, Entsetzen, Freude, Trauer. Und so weiter. Ich möchte so malen, dass die Farbschichten den Seelenschichten entsprechen.“
„Du hast also nicht vor, Landschaften, Stillleben und Portraits zu malen.“
„Nicht unbedingt. Oder vielleicht doch. Auch Figürliches kann vielschichtig sein. Ich weiß es nicht. Ich werde mit meinen Eltern vier Wochen auf Rhodos verbringen. Ich brauche Farben, Pinsel und Papier, sonst sterbe ich sicher vor Langeweile... und vor Sehnsucht nach Rosanna.“
„Ich weiß, was du brauchst. Im Supermarkt gibt es diese kleinen Farbkästen mit zwölf Tuben Gouache, Made in China. Die Qualität ist erstaunlich. Am besten kaufst du dir gleich ein paar Schachteln und ein Kilo weiße Dispersion vom Baumarkt. Weiß braucht man am meisten. Ich besorge dir richtige Pinsel und einen Packen holzfreies Büttenpapier. Gouache auf Ingres ist das Beste für den Urlaub. Die Farbe trocknet so schnell, dass du sie im Nu übermalen kannst.“
„Danke. Das sind tolle Tipps. Ich werde alles genau so machen.“
„Morgen wollte ich sowieso in der Schule noch ein paar Dinge erledigen. Komm doch einfach am Nachmittag vorbei.“
„Dann mache ich mich jetzt mal auf den Heimweg. Wir sehen uns morgen. Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken soll.“
„Denk nicht darüber nach. Dafür hast du mir deine Geschichte mit Rosanna anvertraut. Wetten, dass du sie noch nie jemandem erzählt hast?“
Die vier Ferienwochen auf Rhodos wären tatsächlich um ein Haar todlangweilig geworden. Der Vater las den ganzen Tag Bücher über Zauberei in Lateinamerika und die Mutter putzte das Häuschen, das sie gemietet hatten, ging zum Markt einkaufen und widmete sich der griechischen Küche. Serenus schleppte den verwitterten Holztisch, der unten auf der verdorrten Wiese stand, auf die schattige Terrasse und überklebte ihn mit einer dicken Schicht aus alten Zeitungen. Der Tisch war groß genug, um darauf zehn Blätter und ein paar Pappteller auszulegen. So malte er Serien von zehn Bildern in der jeweils gleichen Farbkombination. Da er mit den Farbtuben geizte und mit der weißen Dispersion großzügig war, entstanden zarte pastellfarbene Blätter.
Er sehnte sich nach Rosanna und fühlte nichts außer diesem tiefen Riss in seiner Seele. Diese Empfindung wollte er darstellen: leere Öffnungen, blinde Fenster, leblose Flächen, erloschene Schatten. Die Mutter stellte einen Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer neben den Maltisch und setzte sich immer wieder dorthin, um ihm beim Malen zuzuschauen. Einmal, als er eine Folge in Grau und Schwefelgelb malte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Hoffentlich geht es dem Mädchen gut“, stammelte sie, stand auf und ging wieder ins Haus zurück. Da wurde Serenus bewusst, dass auch die Mutter Rosanna vermisste. Er ging ihr nach und fand sie in der Küche an die Wand gelehnt. Er trat ganz nahe an sie heran und ließ sich von ihr in die Arme nehmen. „Sie hatte dich immer lieb“, flüsterte er der Mutter ins Ohr und biss die Zähne zusammen, damit er nicht laut zu schreien anfing.
„Dein Geburtstagsgeschenk wartet zu Hause und muss noch gemacht werden“, sagte der Vater beim Frühstück. „Die Mutter und ich haben Pläne gemacht. In deinem alten Zimmer quälst du dich nur mit deinen Erinnerungen. Wir werden dir das Zimmer deines Bruders neu einrichten. Wenn du einverstanden bist, richten wir in deinem alten Zimmer ein kleines Atelier für dich ein, mit Wasser und Licht und allem.“
Serenus schämte sich, als er den Vorschlag vernahm. Offenbar machte sein Befinden gröbere Maßnahmen erforderlich. Es war tatsächlich soweit, dass er sein altes Zimmer nur noch mit Widerwillen betrat. Indessen gab es im Haus ausreichend Raum für alle drei. Die Mutter hatte ein Nähzimmer, der Vater ein Arbeitszimmer und beide jeweils ein eigenes Schlafzimmer. Er würde ein Malzimmer und ein Schlafzimmer bekommen. Wenn er jetzt auch zwei Räume zugeteilt bekam, dann hieß das, dass er nun zu den Erwachsenen gehörte. Zudem hatte er sein Liebstes und Wichtigstes verloren, nachdem er vier Jahre lang nur dafür gelebt hatte. Dafür bekam er nun die Anerkennung seiner Eltern. Er musste etwas sagen.
„Ihr habt Euch das Allerbeste für mich ausgedacht.“
Er stand auf und drückte dem Vater die Hand. Dann ging er zur Mutter und küsste sie auf beide Wangen. Als er sich wieder hinsetzte, sagte der Vater: „Wir haben zusammen geredet, die Mutter und ich. Dein Leid ist auch unser Leid. Wir haben dich zwar auf den Namen Serenus, der Heitere, getauft, aber das soll dich zu nichts verpflichten. Es ist nun einmal so, wie es ist.“
Sein neues Reich wurde ein Knüller. Die Möbel des Bruders genügten seinen Ansprüchen vollkommen. Es musste lediglich eine neue Beleuchtung installiert werden. Zudem kauften die Eltern einen riesigen flauschigen Teppich, auf dem man stundenlang liegen und lesen konnte. Der Umbau des alten Schlafzimmers zu einem Atelier war aufwändiger. Der Vater ließ Handwerker kommen, die eine Wasserleitung legten und eine Spüle montierten. Serenus bekam einen großen Arbeitstisch und einen alten Planschrank mit Schubladen für Papiere und Bilder. Als alles fertig war, strahlte der Raum Zweckmäßigkeit aus und lud zum Arbeiten ein. Tatsächlich verging während der folgenden zwei Jahre kaum ein Tag, an dem Serenus nicht in seinem Atelier zugange war.
Ebenso wichtig wie die Malerei wurde die Freundschaft mit Gisela. Er besuchte sie regelmäßig in ihrer Wohnung, durfte kommen, wann er wollte, und musste sich nicht vorher anmelden. Serenus brachte oft seine neuesten Arbeiten mit und ließ sich von Gisela beraten. Sie wies ihn auf die Textur des Papiers und des Pinsels hin und machte ihn auf die Wirkung der Farben und Kontraste aufmerksam. Manchmal betrachtete sie ein Blatt lange und dachte laut darüber nach.
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