„Ich tue immer alles, was die Ausbilder von uns verlangen“, sagte er. „Deswegen falle ich wohl nicht weiter auf. Aber das heißt nicht, ich meine …“
Nur sehr selten ging Anna an den abgezäunten Bereichen hinter dem Herrenhaus vorbei, in denen die Heranwachsenden unterrichtet wurden und sie hielt den Blick dabei gesenkt, wie es von ihr verlangt wurde, damit sie nicht irgendwelche in der Hitze der Kämpfe entblößte Körperteile sehen konnte. Selbstverständlich nahm das Mädchen dennoch all jenes wahr, was sich auf den Sandplätzen abspielte und sie konnte auch Anselm beobachten, sofern er an diesem Tag dabei war. Und wenn sie dann das Klirren einer zu Boden fallenden Waffe vernahm, dann wusste sie, dass er auch sie gesehen hatte.
Nun strich sie sanft über all die unzähligen Narben auf den Händen und Armen des Jungen, an jenen Stellen, an denen ihm glühendes Metall bei der Arbeit die Haut verbrannt hatte.
„Ich weiß.“ Er zog seine Arme zurück. „Ich bin der Sohn eines Schmiedes und ich verbringe einen Großteil meiner Zeit damit, Waffen herzustellen. Doch das ist nicht dasselbe wie sie einzusetzen zu jenem Zweck, für den sie gemacht worden sind. Und trotz all der Übungen in den vergangenen Jahren, bin ich immer noch sicher, dass ich das wohl nur schwerlich könnte. Dennoch muss ich kommen, wann immer dein Vater oder dein Bruder nach mir rufen.“
„Das wird niemals der Fall sein“, mühte sich Anna ihn zu beruhigen. „Uns kann keine Gefahr drohen.“
Aber Anselm wandte sich ab. „Sag das nicht leichtfertig“, erwiderte er. „Wer weiß, was kommt. Und mir graut davor.“
„Vielleicht hast du Glück und bist nicht unter den Gerufenen“, sprach das Mädchen weiter. „Und wenn doch, dann versteckst du dich eben oder stolperst über einen Stein.“ Sie grinste ein wenig hilflos. Es kam nicht allzu oft vor, dass Anselm und sie über solch ernste Dinge sprachen.
Doch die Miene des Jungen blieb unverändert. „Red nicht solch einen Unsinn! Niemand darf sich den Befehlen seines Herrn widersetzen. Weißt du, was mit denjenigen geschieht, die es wagen?“ Er sah ihr geradewegs in die Augen.
Anna aber wich ihm aus.
„Hast du jemals eine der Bestrafungen unten am Tor gesehen?“, fragte er weiter.
Die Züchtigungen ungehorsamer Soldaten oder Abhängiger wurden an einem eigens dafür vorgesehenen Balken in der Nähe des inneren Burgtores vollzogen und etliche der Bewohner sahen sie sich zur Unterhaltung an.
„Hast du es je gesehen?“, wollte Anselm noch einmal wissen.
Anna schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte sie. Elisabeth gestattete nicht, dass ihre Tochter unter den Zuschauern war und so hatte sich das Mädchen bei diesen Gelegenheiten im Inneren des Gebäudes aufzuhalten.
„Aber ich habe es gesehen“, sagte Anselm. „Und es ist grauenvoll.“
Auch Markus hatte sich vor Jahren einmal eine der Bestrafungen angesehen. Als Anna ihn am Abend fragte, wie es gewesen wäre, meinte er einzig: „Es war widerlich! Ich kann nicht verstehen, was die Leute daran unterhaltsam finden.“
Danach wollte sich der Sohn des Fürsten niemals wieder etwas Derartiges ansehen müssen und verabschiedete sich jedes Mal rechtzeitig vorher mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede.
„Bitte, Anselm“, flehte Anna. „Wollen wir nicht von etwas anderem reden?“ Sie streichelte seine Hände.
Und er ließ es stumm zu.
„Ja“, meinte er schließlich. „Du hast Recht. Sprechen wir nicht weiter darüber. So ist es eben.“ Der Junge versuchte zu lächeln.
Markus sah seine Schwester mit fragenden Augen an. Anna war im Türrahmen mit der Klinke in der Hand stehen geblieben.
„Ich kann nicht einschlafen“, sagte das Mädchen und ließ den Riegel hinter sich ins Schloss gleiten. Dann stand sie etwas unschlüssig vor dem Bett ihres Bruders. „Darf ich mich zu dir legen?“, fragte sie schließlich. Und als Markus stumm blieb, fügte sie leise hinzu: „So wie früher? Weißt du noch?“
Da nickte er langsam, rutschte ein Stück beiseite und Anna kroch zu ihm unter die Bettdecke.
Von frühester Kindheit an war das Mädchen viele Jahre lang des Nachts heimlich aufgestanden und zu ihrem Bruder ins Zimmer geschlichen.
„Kann ich bei dir schlafen?“, weckte sie ihn jedes Mal vorsichtig.
Und Markus hatte ihr augenblicklich Platz neben sich gemacht. Anschließend schlang Anna ihre Ärmchen um seinen Hals und schlief auf der Stelle ein. Die Erzieher der Kinder duldeten es lange Zeit stillschweigend, aber eines Tages sprach Richard mit seinem Sohn.
An diesem Abend sagte Markus zu Anna: „Du bist jetzt schon ein großes Mädchen und brauchst nicht mehr bei mir zu schlafen. Wenn es dir gelingt, nachts in deinem Bett zu bleiben, schenke ich dir etwas Wunderschönes.“
Anna war tapfer und nach ein paar Wochen brachte ihr Bruder ihr ein kleines Häschen mit, das er im Wald gefunden hatte. Das Mädchen war glücklich und verbrachte viel Zeit mit dem Hasen, bis er ein paar Jahre später starb. Markus aber vermisste seine kleine Schwester schmerzlich und sehnte sich nach der Wärme ihres Körpers und dem Geruch ihres Haares. Viele Nächte lag er deshalb wach und ruhelos auf seinem Bett und wünschte, Anna möchte trotz aller Verbote zu ihm kommen.
Jetzt lag sie nach langer Zeit wieder einmal neben ihm und wie früher war sie bereits nach wenigen Augenblicken eingeschlafen. Eine Weile lauschte Markus auf die ruhigen Atemzüge seiner Schwester. Dann richtete er sich auf und schob sogar die Bettdecke ein wenig zurück, um sie besser ansehen zu können. In all den Monaten, die er von Bernadette fort gewesen war, hatte sich Anna ganz und gar verändert. Ihr gelöstes Haar lag auf seinem Kissen, es war um etliches länger geworden, ihre Wangen waren höher und ihr Gesicht weniger kindlich, dafür hatte sich ihr Körper gerundet. Und ein gutes Stück gewachsen war das Mädchen ebenfalls, wie er an diesem Morgen festgestellt hatte, als sie ihm gegenüber stand. Anna war nicht mehr jene kleine Schwester, die er zurückgelassen hatte. In der Zwischenzeit war sie wirklich erwachsen geworden. Und es gab Markus einen heftigen Stich, als er begriff, dass seine gemeinsamen Tage mit Anna nun wirklich gezählt wären, war ihm doch mit seiner Schwester ohnehin schon viel mehr Zeit geschenkt worden als es üblich war.
So war auch seine eigene Mutter Elisabeth mit nicht einmal sechzehn Jahren verheiratet worden und in Annas jetzigem Alter hatte sie bereits einen Sohn von sieben oder acht Monaten gehabt. Wenn Markus die Augen schloss, dann konnte er sich manchmal noch an das junge Mädchen erinnern, das Elisabeth damals gewesen war. Und als nun Anna neben ihm lag, musste er feststellen, dass sie jenem Bild in seinem Inneren so sehr glich, dass es ihm beinahe unheimlich war.
Anna rührte sich ein wenig. Möglicherweise war ihr wegen der fehlenden Decke kalt geworden. „Was ist los?“ Sie öffnete die Augen. „Weshalb siehst du mich so an? Stimmt irgendetwas nicht?“
„Nein, alles in Ordnung.“ Markus zog die Decke wieder über das Mädchen. „Schlaf weiter!“, sagte er und löschte anschließend die Lampe neben seinem Bett.
An jenem Tag, an dem seine Schwester geboren worden war, hatte der Sohn des Fürsten auf den Steinstufen gesessen, die zu Elisabeths Räumen hinaufführten und die dunklen Schreie waren bis zu ihm nach unten gedrungen.
„Muss meine Mutter sterben?“, fragte er die Dienstmagd, die von oben herunterkam, um frisches Wasser zu holen.
„Nein“, beruhigte ihn die Frau und strich dem Jungen über das nahezu weiße Haar. „Das ist ganz normal, wenn ein Kind auf die Welt kommt. Und jetzt geht auf Euer Zimmer, wir holen Euch, wenn alles vorbei ist.“
Es war Richard, der einige Stunden später zu seinem Sohn kam und mit leuchtenden Augen verkündete: „Du hast eine Schwester bekommen.“
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