Richard hielt Wort. Er ließ exzellente Lehrer an seinen Hof kommen und ordnete an, dass gemeinsam mit Markus alle jungen Burschen auf der Burg unterrichtet werden sollten. Und auch die Söhne der Dienerschaft, ebenso wie die Söhne der freien Bauern, hatten sich, soweit es ihnen zeitlich möglich war, zu den täglichen Übungskämpfen einzufinden.
„Mit Abhängigen, die nicht einmal wissen, an welchem Ende sie ein Schwert anfassen sollen, kann ich nicht viel anfangen“, sagte Richard allem Spott der benachbarten Lehnsherren zum Trotz.
Und weil er wusste, dass sich die meisten Bauern eine Ausbildung und Bewaffnung ihrer Söhne nicht leisten konnten, gab er sein halbes Vermögen dafür aus, um die Heranwachsenden auf seine eigenen Kosten unterrichten und ausstatten zu lassen.
„Ich will, dass sie sich und ihren Besitz verteidigen können“, sagte der Fürst. „Und ich will gut ausgebildete Krieger haben, falls ich sie einmal benötige, um irgendeinen Angriff von der Burg abzuwehren.“
Als Markus seine erste Waffe, ein Holzschwert, erhielt, war er sehr stolz, ebenso wie alle anderen Knaben. Endlich war er ein Krieger, endlich durfte er kämpfen lernen, endlich musste er nicht mehr nur bei den Frauen im Haus sitzen. Gemeinsam mit den anderen lernte der Sohn des Fürsten ein Pferd zu reiten, mit dem Bogen zu schießen und mit Schwert oder Messer umzugehen.
Doch je älter die Burschen wurden, desto härter wurden die Übungen. Oftmals ließ man sie stundenlang im Regen oder der sengenden Sonne kämpfen, bis sie nass bis auf die Haut, vollkommen durchgefroren oder verbrannt und erschöpft und taub vor Hunger waren.
„Glaubt ihr, auf den Schlachtfeldern wird euch irgendjemand fragen, ob ihr müde oder hungrig seid oder ob euch vielleicht die Sonne stört?“, brüllten die Ausbildner die Jungen an.
Sie waren unerbittlich und zeigten nicht das geringste Mitgefühl. Wer es wagte, sich über den Drill zu beschweren, den bestraften sie vor den Augen aller anderen. Und Markus war wohl nicht der einzige, der sich im Stillen nach seiner frühen Kindheit zurücksehnte, in der er noch unbehelligt hatte spielen dürfen und auf dem Schoß seiner Amme sitzen konnte.
Da der Sohn des Fürsten auch während der täglichen Übungskämpfe nicht in der Lage war, die Ruhelosigkeit in seinem Inneren zu beherrschen, war er mit Sicherheit einer derjenigen, die von den Ausbildern am häufigsten bestraft wurden. Die Lust an den Unterweisungen und auch der Stolz darauf waren ihm längst vergangen und oftmals erschien er überhaupt nicht zu den Übungskämpfen.
Erst als Anna heranwuchs und das Verhältnis der Geschwister zueinander im Lauf der Jahre immer enger wurde, begriff Markus allmählich, was sein Vater damals, vor langer Zeit, gemeint hatte. Und der Sohn des Fürsten fragte sich, wie er überhaupt jemals auf den Gedanken kommen konnte, Bernadette zum Zwecke einer Ritterausbildung verlassen zu wollen, denn dies hätte doch gleichzeitig bedeutet, auch von seiner Schwester getrennt zu sein. Natürlich aber war sein Platz hier auf der Burg bei Anna und an keinem anderen Ort. Und weil Markus in der Lage sein wollte, Bernadette für seine Schwester verteidigen zu können, fing er an, die Übungskämpfe sehr ernst zu nehmen und erschien wieder jeden Tag auf den Sandplätzen hinter dem Herrenhaus.
Die Männer rissen den Herrn des Anwesens und seine Gattin auseinander.
„Die Frau auf das Bett!“, sagte einer von ihnen.
Sie kreischte voller Verzweiflung, während ihr Mann versuchte, sich zu befreien, um ihr beizustehen. Doch einer der Kumpanen drückte die Frau auf das Lager nieder und band die Gelenke ihrer Hände an den seitlichen Stangen der Bettbegrenzung fest. Ein anderer stieß den Lehnsherrn zu Boden.
Als er aufbegehrte und schrie: „Ihr seid ja allesamt wahnsinnig!“, erhielt er einen harten Faustschlag mitten ins Gesicht. Dennoch zog sich der Lehnsherr mühsam wieder auf die Knie hoch. „Ich weiß nicht, was ihr von uns wollt. Ich …“
„Glaubt ihm kein Wort!“, sagte derjenige, der die Frau festgebunden hatte. „Er lügt. Er weiß ganz genau, weshalb wir hier sind.“ Immer noch stand er neben dem Bett.
„Also, wo ist es?“, fragte der andere, während er dem knienden Mann die Hände hinter dem Rücken zusammenband.
Sein Kumpan beugte sich über die Frau auf dem Bett und zerrte so lange an deren Gewand, bis der Stoff aufriss und die weiße Haut ihres Oberkörpers zum Vorschein kam. „Wunderschön“, grinste er. „Ich freue mich schon auf später.“
„Oh Gott.“ Beinahe liefen dem Lehnsherrn die Tränen über die Wangen, während er mit ansehen musste, wie die beiden Männer den halbnackten Körper seiner Gattin mit kaum verhohlener Gier anstarrten.
„Schluss mit diesen Kindereien!“ Aus dem Hintergrund trat ein weiterer Mann hinzu, der das Geschehen bislang lediglich regungslos und mit kalten Augen beobachtet hatte. „Fangen wir an!“, sagte er ruhig.
Einst, vor vielen Jahren, war er ein schöner Junge mit nahezu weißem Haar gewesen, jetzt hingen ihm die langen Strähnen bis weit in den Rücken hinab und waren dunkel vom Dreck vieler Monate. In seinem Gesicht stand ein struppiger, ungepflegter Bart, sein Gewand war zerrissen und ungewaschen. Er bestieg das Bett und kniete sich über die Beine der Frau.
„Ich bitte Euch.“ Der Lehnsherr war rastlos vor Angst. „Lasst ab von ihr. Meine Frau weiß doch überhaupt nichts.“
Die beiden Kumpanen traten an seine Seiten und drückten ihn nieder, damit er sich nicht erhob.
„Umso mehr Grund, dass du endlich deinen Mund aufmachst!“, erwiderte der Mann auf dem Bett.
„Tu es nicht!“, schrie die Frau, noch ehe ihr Gatte der Aufforderung in irgendeiner Weise nachkommen konnte. „Gib diesen Hurensöhnen nichts preis. Soll dieser Dreckskerl doch …“ Und sie spuckte dem Mann über ihr mitten ins Gesicht.
Er wischte es nicht weg. Doch mit der Außenseite seiner Hand versetzte er der Frau einen so harten Schlag auf die Wange, dass sie augenblicklich verstummte und nur mehr ein Schmerzenslaut von ihr zu hören war.
„Du hältst gefälligst den Mund, wenn ich mit deinem Mann rede!“, fuhr er sie an.
Anschließend wandte er sich nach dem Lehnsherrn auf dem Boden um, doch dieser schwieg. Da fasste der Mann auf dem Bett nach einer der fest gebundenen Hände der Frau und mit einem fürchterlichen Knacken brach er ihr zwei Finger. Den zuckenden Körper presste er mit einem Arm auf das Lager nieder, während ein gellender Schrei die Luft zerriss. Dann griff er wieder nach der Hand der Frau.
„Unter dem Dach“, stieß der Lehnsherr hervor. „Es gibt eine Nische in der Wand neben dem Fenster.“
Die beiden Kumpanen zu seinen Seiten grinsten mit Befriedigung. „Na also, wir wussten es doch“, sagte einer von ihnen.
Der Mann auf dem Bett erhob sich. „Holt es“, sprach er. „Ich bleibe hier.“
Kaum dass er alleine war, trat er vor den knienden Lehnsherrn, zog sein Messer und stieß es ihm mit aller Kraft mitten ins Herz. Die Frau auf dem Bett dagegen rührte er nicht an, denn seine Kumpanen brauchten sie noch.
Die Nacht war hereingebrochen und trotz aller Unruhe machte sich langsam die Erschöpfung in Markus’ Innerem breit. Er entzündete die Kerzen und ließ sich an dem kleinen Tisch unter dem Fenster nieder. Dann griff er nach der Heiligen Schrift. Diese Bibel war das einzige Buch, das der Sohn des Fürsten besaß. Seine Mutter Elisabeth hatte sie ihm vor Jahren geschenkt, obwohl Markus’ Lateinkenntnisse sich auf wenige Floskeln beschränkten. Ein wenig wahllos blätterte er durch die Seiten und überlegte, ob er seine Schwester Anna zu sich bitten sollte, damit sie ihm ein paar seiner Lieblingspassagen übersetzte. Schließlich aber schlug Markus lustlos die Heilige Schrift zu und griff stattdessen nach Pergament, Feder und Tinte. Eine ganze Weile saß er brütend über dem Blatt und dachte darüber nach, was er seiner Mutter angesichts der Ereignisse schreiben sollte.
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