„Und wer hätte gedacht, dass ich einmal froh wäre, Euch zu sehen?“, erwiderte Markus. Er hatte wieder unter dem Fenster Halt gemacht. „Da gab es noch etwas, das Ihr vielleicht wissen solltet.“ Der Sohn des Fürsten trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Tisch. „Der Herr dieser Männer ließ mich entkleiden.“
„Vor dem Verhör?“, fragte Walter.
„Nein, danach.“ Markus sah den Ziehbruder seines Vaters an. „Jener Mann ließ mich durch seine Soldaten ausziehen und dann musterte er mich eine Zeitlang von vorne und hinten. Und er wollte wissen, woher die Narben auf meinem Körper stammten.“
„Und dann?“ Richards engster Freund verzog die Stirn.
„Nichts dann.“ Markus zuckte mit den Schultern. „Sie warfen meine Kleider auf den Boden und verschwanden.“
Walter sah vor sich hin. Schließlich hob er ebenfalls die Achseln. „Nun ja, Ihr wisst selbst, dass man Gefangene ganz gerne entblößt, um sie zusätzlich zu demütigen und ihren Widerstand zu brechen. Also …“
„Nein!“, fiel ihm Markus mit Entschiedenheit ins Wort. „Dies war mit Sicherheit nicht der Grund!“
Sie schwiegen eine Zeitlang. Walter stand still und reglos und beobachtete den Sohn des Fürsten, der wieder begonnen hatte, wie ein Tier in seinem Zimmer auf und ab zu gehen.
„Ist es die Unruhe, die Euch quält?“, fragte er irgendwann.
Markus hielt inne. „Ja“, gab er zu. „Schon lange war es nicht mehr so schlimm wie jetzt.“
Richards Ziehbruder nickte. „Dann ist es wohl besser, wenn ich Euch nun alleine lasse“, sagte er leise. „Versucht, Euch ein wenig niederzulegen.“
„Bringt sie hier herüber!“
Die beiden Männer waren bleich wie Kreide und wandten sich verzweifelt, um den rohen Händen ihrer Kumpanen zu entkommen. Ihre Beine zitterten.
„Wir haben den ganzen Wald abgesucht“, brachte einer mühsam hervor.
„Tatsächlich?“ Die Soldaten stießen ihnen die Griffe ihrer Waffen in den Rücken. „Weiter!“
Vor ihrem Herrn hielten sie.
„Bitte, wir …“ Auf Knien flehten die beiden Männer um ihr Leben. „Gebt uns ein oder zwei weitere Stunden. Wir …“
Der Blick des Herrn war mitleidslos. „Das Unheil, das ihr angerichtet habt, ist schon groß genug“, sagte er ruhig. „Für Getreue wie euch gibt es bei mir keinen Platz.“
Die anderen Soldaten waren aus dem Inneren der Ruine herausgetreten und hatten einen engen Kreis um die am Boden kauernden Männer gezogen. In ihren Augen stand eine ebensolche Kälte wie in denen ihres Herrn.
„Bitte!“, kreischte einer der Männer. „Helft uns!“ Mit wildem Blick suchte er die Unterstützung seiner ehemaligen Kumpanen. „Sagt doch etwas!“
„Sie sollen hängen für ihre Unachtsamkeit!“, erklang es plötzlich aus den Reihen der Umstehenden.
Der Herr nickte. „Sie sollen hängen!“, bestätigte er.
An Niederlegen war nicht zu denken. Stattdessen ging Markus weiter rastlos in seinem Raum auf und ab und bemühte sich darum, die entsetzliche Ruhelosigkeit unter seine Gewalt zu zwingen. Doch sie war es, die den Sohn des Fürsten beherrschte und ihn in ihren Klauen hielt wie ein wildes, erbarmungsloses Raubtier.
Bereits als Kind war Markus nur mit größter Mühe dazu in der Lage gewesen, einem anderen Menschen, ganz gleich wem, länger als ein paar Augenblicke zuzuhören und er konnte darüber hinaus niemals wirklich still sitzen. Je älter der Sohn des Fürsten wurde, desto schlimmer und häufiger wurde er von der Ruhelosigkeit gequält. Wie eine unbesiegbare Kriegerin fiel sie ihn aus dem Hinterhalt heraus an und zwang ihn, das zu tun, was sie ihm befahl. An jenen Tagen, an denen die Unruhe Markus ganz und gar nicht loslassen wollte, hieb er wie ein Wahnsinniger bei den Übungskämpfen auf seine Gegner ein und hätte ihnen letztendlich wohl auch heftigste Verletzungen beigebracht, wenn ihn nicht irgendwann die Ausbildner wütend zurückgerissen hätten. Oder er ritt ohne ein Wort der Erklärung in den Wald hinein und kehrte erst viele Stunden später wieder auf die Burg zurück. Er brüllte die Dienstkräfte und die Soldaten wegen lächerlicher Kleinigkeiten an, haderte gar mit Walter ohne jeden Grund und war so unausstehlich, dass ihm alle aus dem Weg zu gehen versuchten.
Wenn der Anfall endlich vorüber war, dann saß Markus zusammengesunken auf dem Boden seines Zimmers, hielt das Gesicht in den Händen verborgen und fragte sich, ob er wohl richtig im Kopf wäre, weil er sich selbst nicht erklären konnte, was in jenen Zuständen mit ihm geschah und so sehr er sich auch anstrengte, niemals eine Antwort darauf fand, was ihn eigentlich immer wieder so wütend und streitsüchtig machte. Manchmal glaubte er, etwas vor sehr langer Zeit verloren zu haben und sich immer noch auf einer rastlosen Suche danach zu befinden.
Richard verzweifelte nahezu an seinem Sohn, weil ihm von allen Seiten her dessen ungebührliches Verhalten angetragen wurde. Wenn er mit Markus unter vier Augen sprach, dann war dieser durchaus einsichtig und gelobte Besserung, legte sich aber gewöhnlicher Weise nur wenige Stunden später mit dem nächsten Soldaten oder Dienstboten an, so dass der Fürst seinen Sohn schließlich kopfschüttelnd dessen Erzieher überantwortete. Jener Mann hatte längst alles versucht, um mit Markus in vernünftiger Weise zu reden, doch der Sohn des Fürsten hörte seinem Erzieher ebenso wenig zu wie irgendeinem anderen Menschen und er blieb auch niemals am Tisch sitzen, wenn jener ihn dazu anhielt. Noch dazu war er überaus frech und unverschämt. Der Erzieher fürchtete um seine Stellung und seine Beschäftigung auf Bernadette für den Fall, dass der Junge ihm entgleiten würde und es ihm nicht gelänge, ihn zu bändigen. Deswegen schlug er Markus grün und blau. Doch das half nur sehr wenig und keine der furchtbaren Bestrafungen führte jemals dazu, dass Markus’ Verhalten sich besserte. Nach wie vor blieb er wild, unverschämt und streitsüchtig.
Seine Schwester Anna war vermutlich der einzige Mensch, der verstand, dass Markus sich nicht mit Absicht so unmöglich aufführte. Sie begriff auch, dass die Unruhe kein schlechter Teil seines Wesens war, den man allmählich vertreiben konnte, wenn man nur immer wieder lang und heftig genug auf ihn einschlug. Anna sah, wie sehr ihr Bruder selbst unter seinen Anfällen litt und dass die Ruhelosigkeit etwas war, das er nur allzu gerne aus seinem Leben verbannt hätte. Doch aus irgendeinem Grund hielt sie sich hartnäckig bei ihm.
Möglicherweise deswegen, weil er sich bei seiner Schwester verstanden fühlte und sich vor ihr niemals für seine Anfälle zu rechtfertigen brauchte, war Anna der einzige Mensch, zu dem Markus sich anders verhielt. Zwar sprach er auch zu ihr oftmals in aufbrausender und unbeherrschter Weise, doch niemals war er zu ihr derart übellaunig wie zu den Soldaten oder den Bediensteten. Er brüllte Anna nicht an, stieß sie nicht von sich weg und war auch niemals körperlich roh oder gar gewalttätig zu ihr.
Als Richard den Erzieher irgendwann entließ, erlangte Markus’ Ruhelosigkeit innerhalb kürzester Zeit ihren Höhepunkt und wurde schlimmer als jemals zuvor. Der Sohn des Fürsten verbrachte den ganzen Tag damit, Streit zu suchen und Anna hielt ihn nicht nur einmal davon ab, sich mit irgendjemandem aufs Heftigste zu prügeln, was er in ihrer Abwesenheit sowieso andauernd tat. Die Bewohner der Burg hielten sich von ihm fern und hofften, dass Richard seinen Sohn an einen anderen Hof oder in ein Kloster schicken mochte, jedenfalls möglichst weit weg. Und alle beteten, dass der Fürst sehr alt werden würde, damit nicht jemand wie sein furchtbarer Sohn das Anwesen in naher Zukunft übernähme.
„Ich habe dir bereits des Öfteren gesagt, dass du dich auch gegenüber der Dienerschaft höflich und respektvoll zu verhalten hast“, sagte Richard immer wieder. „Eines Tages wirst du diesen Hof hier führen. Glaub mir, mit einem Herrn wie dir werden die Bewohner wenig Freude haben und es wird nur eine Frage der Zeit sein, ehe sie sich gegen dich auflehnen. Dann kannst du sie nur mehr mit Waffengewalt dazu zwingen, dir zu gehorchen. Ist dies das, was du willst?“
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