Markus lag auf dem Bett. Sein Gesicht war gerötet und angeschwollen, eine seiner Lippen aufgeplatzt. Dennoch versuchte er zu lächeln, als er seine Schwester sah. „Engelchen.“
Anna aber musste sich beim Anblick seiner Verletzungen beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Rechtzeitig erinnerte sie sich jedoch an ihr Versprechen, das sie Johann gegeben hatte, kniete neben dem Bett nieder und ergriff Markus’ Hand.
„Nicht“, sagte er und wischte seiner Schwester die Tränen fort. „Es ist alles halb so schlimm.“
Anna aber sah, dass ihm das Sprechen und das Atmen Schmerzen bereiteten. Doch sie wusste auch, dass es Markus noch so elend gehen konnte, stets würde er versuchen, von seiner Schwester alles Leid fern zu halten.
Johann gab den Geschwistern nur wenige Augenblicke, dann schob er Anna vom Bett weg. „Es ist genug“, meinte er. „Euer Bruder wird jetzt etwas essen und sich dann ordentlich ausschlafen. Später oder morgen könnt Ihr mit ihm über alles sprechen. Und Ihr auch.“ Das letzte galt Walter, der sich bis dahin lediglich stumm im Hintergrund gehalten hatte.
Markus schien irgendetwas auf die Worte des Arztes erwidern zu wollen, doch dann sank er kraftlos zurück. Wenig später betrat der alte Diener, der ihm zugeteilt war, den Raum und wies alle übrigen Personen ohne Erbarmen aus dem Zimmer. Mit sanftem Druck sorgte er dafür, dass der Sohn des Fürsten ein paar Kleinigkeiten zu sich nahm und anschließend einschlief. Anna hätte alles darum gegeben, am Bett ihres Bruders sitzen zu dürfen, um wenigstens seine Hand zu halten, doch dieser Wunsch wurde ihr mehrfach verweigert.
„Der Herr braucht Ruhe“, sagte der Diener immer wieder. „Aber ich lasse augenblicklich nach Euch schicken, sobald er erwacht.“
Anna wagte nicht, sich aus dem Inneren des Herrenhauses oder gar aus den Burgmauern hinaus zu bewegen, weil sie fürchtete, den Zeitpunkt zu verpassen, in dem Markus nach ihr verlangte. Doch die Stunden verstrichen, es wurde Nachmittag und schließlich Abend. Ihr Bruder schlief immer noch oder war zumindest so erschöpft, dass er weder seine Schwester noch sonst irgendjemanden zu sehen wünschte.
„Wie geht es deiner Verletzung?“
Anna sah auf. Anselm stand über ihr. Das Mädchen hatte sich mit einem Buch ganz hinten in den Burggarten zurückgezogen. Hier, unter den alten Ahornbäumen, war einer ihrer Lieblingsplätze. Für einen Augenblick berührte sie ihre Stirn an jener Stelle, an der sie damals der Schlitten getroffen hatte. Die Haut war noch rot verfärbt, doch schon bald würde die Wunde vollkommen verheilt und kaum mehr zu sehen sein.
„Warum warst du so lange nicht da?“, fragte Anna anschließend und schlug ihr Buch zu. Es war bereits Spätherbst und seit jenem Unfall im vergangenen Winter waren viele Monate vergangen.
„Ich konnte leider nicht kommen“, erwiderte Anselm und in seiner Stimme klang Enttäuschung mit. „Meine Mutter hat nach dem Winter noch ein Kind zur Welt gebracht, einen Knaben. Ich musste ihr sehr viel helfen, auf den Feldern und mit den Kleinen.“
In all der Zeit, in der der Junge nicht auf Bernadette erschienen war, hatte Anna niemals gewagt, sich bei Elias nach dem Verbleib seines Sohnes zu erkundigen, weil sie wusste, dass er ihm nach jenem Unfall den Umgang mit der Tochter des Herrn verboten hatte.
„Aber jetzt nimmt mich mein Vater wieder öfter mit auf die Burg“, fuhr Anselm fort.
Wie schön!, dachte Anna und sah ihn wortlos an. Anselm ließ sich vor ihr nieder und eine kurze Weile blickten sie einander stumm in die Augen.
„Hat dein Vater dich damals schlimm geschlagen?“, fragte das Mädchen irgendwann leise.
„Ja, sehr schlimm“, antwortete Anselm. „Aber er tat es nicht, weil er wirklich wütend auf mich war, sondern weil er Angst vor seinem Herrn hatte. Das machte es irgendwie ... erträglicher für mich. Und hinterher saß er neben mir auf dem Boden und weinte.“
„Es tut mir so furchtbar leid, dass du meinetwegen …“, begann Anna.
Sie brach allerdings ab, als Anselm eine Hand ausstreckte und die Stelle auf ihrer Stirn berührte. Doch er zog seine Finger so rasch zurück, als habe er sich verbrannt. Und dann erhob er sich und lief sehr schnell davon.
Seit diesem Zeitpunkt begann Anna jeden Morgen darauf zu warten, dass Anselm im Burghof erschien. Dazu stand sie bereits in aller Frühe auf und stellte sich ans Fenster ihres Zimmers, von wo aus sie unmittelbar auf den Hof hinab blicken konnte. Den ganzen Winter über wartete sie jeden Morgen reglos und geduldig, lediglich mit dem ärmellosen Nachtgewand am Körper und mit offenem Haar und nur Anselm wusste, dass sie es für ihn tat. Wenn er schließlich gemeinsam mit seinem Vater durch das innere Burgtor hereingekommen war, dann ließ er Elias zuerst in die Schmiede gehen, während er selbst für einen kurzen Augenblick unten im Hof stehen blieb und zu dem Mädchen am Fenster hinaufsah. Niemals hob der Junge eine Hand oder nickte ihr zu, aber Anna wusste, dass er nur sie wahrnahm, bis er sich nach einer Ewigkeit schließlich umwandte und ebenfalls die Werkstätte seines Vaters betrat.
Und ab dem Frühling wurde die Wiese unter den großen Ahornbäumen zum heimlichen Treffpunkt der beiden. Die Stelle konnte nur über einen kleinen, ausgetretenen Pfad erreicht werden und lag so weit abseits der eigentlichen Wege, dass sie vollkommen unbeobachtet war. Anna verbrachte ohnehin auch alleine sehr viel Zeit an jenem Ort. Sie lag im weichen Gras, las oder stickte und Anselm kam, wenn die Arbeit in der Schmiede getan war und er sich unbemerkt davon stehlen konnte. Allerdings blieb er niemals lange, weil er fürchtete, dass sein Vater bald nach ihm suchen würde. Er legte sich neben das Mädchen und manchmal griff er sogar nach ihrer Hand und Anna ließ ihn gewähren.
Oftmals musterte sie Anselm verstohlen von der Seite her, weil er sich in den verstrichenen Monaten ganz und gar verändert hatte. Sein Haar reichte ihm mittlerweile bis über die Schultern und Anselm trug es meistens mit einem Lederriemen im Nacken zusammengebunden. Auf seinen Wangen stand der dunkle Schatten des Bartes und er hatte wohl auch bereits aufgehört zu wachsen. Dafür waren seine Arme sehr kräftig geworden und Anna konnte seine Handgelenke bei weitem nicht mehr umspannen. Manchmal, wenn sie sich Anselm und sich selbst von oben vorstellte, wie sie gemeinsam nebeneinander auf der Wiese unter den Ahornbäumen lagen, dann sah sie ein kleines Mädchen an der Seite eines erwachsenen Mannes liegen.
„Für dich“, sagte Anselm eines Nachmittags und hielt einen kleinen Gegenstand aus Metall hoch.
Anna nahm ihn staunend entgegen. Es war ein sorgfältig gearbeitetes Ahornblatt.
„Hast du das selbst gemacht?“, erkundigte sie sich verwirrt.
„Ja.“ Der Junge senkte die Augen. „Weil wir uns doch immer hier bei diesen Bäumen treffen. Und ich wusste nicht, was ich dir sonst …“ Anselms Wangen röteten sich und er wand sich zur Seite. „Ich habe meinen Vater um ein paar Metallreste gebeten. Es ist nichts Besonders, kein Silber oder dergleichen.“
Zu beiden Seiten des Blattes hatte er ein winziges Loch gebohrt und ein schmales Lederband durchgezogen.
„Ich weiß nicht, ob du es überhaupt tragen möchtest“, meinte er dann schüchtern. „Aber ich habe die Bänder so lang gelassen, dass der Anhänger unter deinem Gewand verschwindet und ihn keiner sieht.“
„Natürlich will ich es tragen.“ Anna wandte ihm den Rücken zu. „Bitte, hilf mir.“
Sie schob ihr Haar nach oben, damit Anselm das Leder in ihrem Nacken zusammenbinden konnte. Seine Hände ruhten für einen Moment auf den Schultern des Mädchens und Anna hielt still und genoss seine Berührung, ehe sie die Kette unter ihr Gewand gleiten ließ.
Als sie sich schließlich zu ihm umwandte, waren ihre Gesichter einander näher als jemals zuvor. Anselm roch nach den Kühen und Schafen, die er am Morgen gemolken hatte, nach dem Brot und der Milch, die sein Mittagessen gewesen waren und nach dem Rauch des Feuers in der Schmiede seines Vaters. Und dann trat das Mädchen noch einen winzigen Schritt auf ihn zu und tat endlich das, was sie schon lange hatte tun wollen: sie küsste Anselm. Sie küsste ihn immer wieder, seinen Mund, seine Wangen, seine Stirn, seine Augen, so lange, bis er sie lachend festhielt und ein Stück von sich weg schob.
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