Markus schwieg.
Sein Vater seufzte. „Finde eine Möglichkeit, diese entsetzliche Unruhe unter deine Gewalt zu bringen“, sprach er abschließend. „Wie auch immer es dir gelingen mag. Mir ist jedes Mittel recht, Hauptsache …“
„Ja, Vater. Ich werde mich bemühen“, versprach Markus.
Und Richard blickte seinen Sohn voller Zweifel und Unglauben an.
„Ja, er ist da.“ Die alte Dienstmagd lächelte freundlich. „Seht Ihr, dort hinten sitzt der junge Herr gemeinsam mit seiner Schwester.“ Sie wies Judith den Weg durch den Garten.
Langsam schritt das Mädchen den gewundenen Pfad nach hinten. Markus schien mit Anna in ein Würfelspiel vertieft, doch er fühlte wohl die Anwesenheit seiner Verlobten, denn plötzlich blickte er auf. Seine Augen verharrten in Judiths und er lächelte ihr verhalten entgegen.
Er freut sich wirklich, dass ich komme, dachte das Mädchen glücklich.
„Ich habe gewonnen!“, kreischte Anna in diesem Moment. Dann aber drehte sie sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck herum, weil sie wohl wissen wollte, wem ihr Bruder da so einladend entgegen blickte, doch als sie ihre zukünftige Schwägerin erkannte, verdunkelten sich ihre Augen.
„Grüß euch, Ihr beiden“, sagte Judith und blieb neben dem kleinen Tischchen stehen.
Anna murmelte irgendetwas vor sich hin, Markus aber erhob sich und trat sehr nah an seine zukünftige Frau heran.
„Wie schön, dass du schon da bist“, sagte er. „Ich hatte dich erst später erwartet.“
„Ja, die Ich-sag-dir-jetzt-mal-wie-sich-eine-zukünftige-Ehefrau-zu-benehmen-hat-Tante, die Isabel nach Florentina bestellt hat, fühlt sich heute nicht“, erwiderte Judith mit einem bitteren Zug um den Mund.
„Wie bedauerlich.“ Markus verbiss sich ein Grinsen. Dann warf er einen Blick auf seine Schwester, die mit gesenkten Augen auf die Tischplatte hinabstarrte. Für einen Moment berührte er sanft Annas Hand. „Bis später, Herzchen“, sagte er leise.
Rot vor Scham und Wut packte Anna die Würfel in ein Säckchen und verschwand dann ohne ein Wort des Abschieds.
„Oje.“ Judith blickte dem jüngeren Mädchen nach. „Das ist wohl nicht einfach für sie.“
„Es wird sich schon noch geben“, versicherte Markus und führte seine Verlobte zum Tisch, wo sich Judith auf Annas Stuhl niederließ.
Sie plauderten ein wenig über belanglose Alltäglichkeiten und Judith dachte währenddessen daran, wie todkrank ihr Verlobter noch vor wenigen Wochen gewesen war. Markus hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, so schwer, dass man seine zukünftige Frau sogar etwas früher als geplant aus dem Kloster holte, wo sie die vergangenen drei Jahre verbracht hatte. Judiths Gegenwart und ihre täglichen Besuche an seinem Krankenlager hatten sich sehr hilfreich für Markus’ Gesundung ausgewirkt und er hatte sich bald erholt. Die bereits geplanten Hochzeitsfeierlichkeiten hatten allerdings verschoben werden müssen.
Dennoch kam Judith auch weiterhin jeden Tag nach Bernadette, um Zeit mit ihrem Verlobten zu verbringen. Markus schien zufrieden mit der Wahl, die sein Vater Richard für ihn getroffen hatte. Er begrüßte seine zukünftige Frau stets freudig, lachte häufig mit ihr und vertraute ihr viele Dinge an. Er sprach sogar mit Judith hin und wieder über ihr zukünftiges gemeinsames Leben auf Bernadette. Obwohl das Mädchen wusste, dass sie es mit Markus besser getroffen hatte als viele ihrer Freundinnen mit ihren Ehemännern, nagte dennoch die Furcht in ihrem Inneren. Schon oft hatte Judith beobachtet, auf welch eindeutige Art und Weise andere Frauen ihrem Verlobten hinterher sahen und sie war sicher, dass sich Markus in dieser Hinsicht keineswegs immer zurückhielt. So würde ihm eine Ehefrau schon etwas bieten müssen, um ihn bei sich halten oder sogar für sich alleine haben zu können. Judith aber hatte von ihrer Mutter Isabel lediglich die Farbe ihres Haares und die ihrer Augen geerbt, doch ansonsten war sie eher blass und unscheinbar. Ihr Körper war knochig, weil Judith aber kein kleines Mädchen war, wirkte sie dadurch nicht zierlich, sondern dürr. Selbstverständlich hatte Markus noch niemals eine abfällige Bemerkung über ihr Aussehen gemacht, aber Judith vermisste in seinen Augen jenes Verlangen, von dem sie träumte und mit dem ihr zukünftiger Ehemann sie anblicken sollte. In Judith allerdings wuchs die Sehnsucht nach Markus von Tag zu Tag.
„Es ist mir gar nicht recht, dass du dich andauernd mit ihm triffst!“, polterte Heinrich an diesem Nachmittag, nachdem er seine Tochter in der Nähe der Stallungen abgepasst hatte.
„Aber Vater, warum denn nicht?“, wagte Judith ihm zu entgegnen. „Markus ist doch nicht irgendjemand. Er ist mein zukünftiger Gatte.“
Heinrich schwieg für einen Moment. Dann stampfte er mit dem Fuß auf. „Ach, verdammt! Ist es meine Sache, mit dir über diese Dinge zu sprechen? Isabel sollte …“ Er winkte ab. Schließlich zog er seine Tochter ein Stück zur Seite. „Liebes.“ Er berührte sanft Judiths Wange. „Du weißt, dass Markus seinen Vater bald auf irgendeiner Unternehmung begleiten soll, nicht wahr?“
Das Mädchen nickte bestätigend.
Heinrich zuckte mit den Schultern. „Gewiss werden sie viele Monate unterwegs sein.“
„Ja“, sagte Judith noch einmal.
„Ich will nicht den Teufel an die Wand malen“, fuhr Heinrich fort. „Aber zumal eure Eheschließung erst nach Markus’ Rückkehr stattfinden soll. Die Zeiten sind unsicher. Niemand weiß, was geschehen wird.“ Er sah seiner Tochter geradewegs in die Augen. „Allein stehend mit einem Kind zu sein, bedeutet eine große Schande, Judith. Und dabei wird es auch überhaupt keine Rolle spielen, ob der Vater des Kindes der Ehemann der Mutter hätte werden sollen oder nicht. Von Bedeutung werden lediglich die Tatsachen sein. Deine Mutter und ich werden dir dann nur sehr bedingt helfen können.“
„Ja, Vater“, erwiderte Judith erneut und sehr beschämt. „Das weiß ich doch alles.“
„Gut.“ Heinrich schien nur halbwegs beruhigt. „Dann hoffe ich, dass Markus sich über diese Dinge ebenfalls im Klaren ist und dass du dich nicht zu irgendetwas drängen lässt.“
„Gewiss nicht“, versicherte Judith.
„Mein Gott! Walter hat Recht“, sprach Markus zu sich selbst, während er in den Spiegel blickte und vorsichtig seine Verletzungen betastete. „Das ist ja wirklich entsetzlich.“
Als er seine Schwester hinter sich wahrnahm, die lautlos das Zimmer betreten hatte, wandte er sich allerdings um.
„Mutter ist vor zwei Tagen fort gefahren“, sagte Anna und kam langsam auf ihn zu. „Sie besucht ihre jüngste Schwester für ein paar Wochen.“
Ihr Bruder nickte. „Ich weiß, Walter hat es mir bereits mitgeteilt.“ Dann sah er aus dem Fenster. „Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie nicht da ist“, fuhr er fort. „Sie wäre zu Tode erschrocken, wenn sie mich in diesem Zustand sähe und noch dazu erfahren müsste, dass ich ohne ihren Gatten zurückgekehrt bin.“
„Das ist doch nicht deine Schuld“, fiel ihm das Mädchen ins Wort.
Markus zuckte mit den Schultern. „Dennoch“, meinte er. „Ich bin sicher, dass Elisabeth es wesentlich lieber hätte, wenn Richard ohne mich zurückgekehrt wäre als gegenteilig.“ Er drehte den Kopf und suchte die Augen seiner Schwester.
Anna jedoch starrte ihn entsetzt an. „Wie kannst du so etwas sagen?“, fragte sie. „Du redest, als stände es Mutter an, sich zu entscheiden, ob sie lieber dich oder Richard immer noch in der Gewalt jener Männer wüsste.“
„Oh Gott, Anna“, erwiderte Markus leise. „Ich fühle mich furchtbar schuldig.“
„Weshalb denn das?“, wollte sie wissen, die Augen voller Bangen.
„Weil ich jenen Männern entkommen konnte und Vater nicht“, antwortete er.
„Was trifft dich denn diesbezüglich für eine Schuld?“, erwiderte das Mädchen verzweifelt. „Du solltest dankbar dafür sein, dass du fliehen konntest. Wünscht du dich etwa wieder dorthin, an jenen entsetzlichen Ort, und willst du wieder Schreckliches erleiden, nur weil du Richard nicht retten konntest?“
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