„Ich hätte nach ihm suchen müssen“, sagte ihr Bruder. „Aber ich habe nicht einmal an Richard gedacht. Ich bin einfach nur davon gelaufen und überließ ihn seinem Schicksal.“
„Um Himmels Willen, Markus!“, fuhr Anna ihn an. „Weißt du, wie viel Glück es gewesen ist, dass du überhaupt entkommen konntest? Dass diese Wahnsinnigen dich nicht aufspürten? Dass du nach all den entsetzlichen Entbehrungen tatsächlich noch den Weg nach Bernadette gefunden hast und nicht irgendwo vor Entkräftung liegen geblieben bist? Hör jetzt auf mit diesem Unsinn! Ich bin mehr als froh darüber, dass wenigstens du es nach Bernadette geschafft hast und Elisabeth wird das ganz genauso sehen.“
Markus nickte ohne Überzeugung und trat dann auf seine Schwester zu. „Ich würde dennoch gerne eine Zeitlang warten, ehe wir einen Boten zu Mutter schicken, um ihr mitzuteilen, was geschehen ist. Irgendwie habe ich die Befürchtung …“ Er hatte das schreckliche Gefühl, sich vor seiner Schwester dafür rechtfertigen zu müssen, dass er Elisabeth noch nicht sehen wollte.
„Ganz wie du es willst“, erwiderte Anna jedoch.
Sie rückte ein wenig von ihm ab. Und dann hob sie ihre Hand und griff in das Haar ihres Bruders. Jetzt nach der langen Zeit seiner Abwesenheit fiel Anna zum ersten Mal wieder auf, wie außergewöhnlich die Farbe seiner Haare in Wirklichkeit war, denn normalerweise achtete sie nicht darauf.
Markus’ Haar war beinahe so weiß wie der frisch gefallene Schnee im Winter.
„Wie ist die Lage draußen?“, erkundigte sich Markus beim Ziehbruder seines Vaters. Es wurde bereits dunkel, in ein oder zwei Stunden würde es Nacht sein.
Walter zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt verhält sich alles ruhig. Nichts Auffälliges, keine besonderen Vorkommnisse. Aber wir müssen dennoch wachsam sein. Ich habe die Soldaten über das Wesentliche aufgeklärt und auch einen Großteil der Dienstkräfte. Daher ist die Stimmung unter den Bewohnern angespannt.“ Er schwieg einen Moment. „Und wie fühlt Ihr Euch selbst?“, wollte er dann wissen. „Ist es Euch gelungen, ein wenig zur Ruhe zu kommen?“
Markus winkte ab. „Nicht wirklich. Ich muss immerzu an Richard denken. Wie es ihm wohl ergeht? Der Gedanke, dass sich mein Vater noch in den Händen dieser Horde befindet und sie ihm weiß der Himmel was antun, ist mir unerträglich.“
„Machen wir uns nichts vor“, erwiderte Walter. „Richard ist tot.“
Ein jedes dieser Worte traf Markus wie ein Messerstich unmittelbar ins Herz. „Seid Ihr des Wahnsinns, so etwas Entsetzliches zu sagen?“, fuhr er den Mann an. „Was macht Euch denn so sicher?“
„Welchen Grund sollten diese Männer haben, Euren Vater am Leben zu lassen?“, fragte Walter zurück.
„Möglicherweise um ihn noch eine Zeitlang auszuquetschen“, antwortete der Sohn des Fürsten bitter. „Weshalb sollten sie Richard zuvorkommender behandeln als mich?“
Walter hob die Achseln. „Das ist wohl denkbar“, gab er zu. „Ich halte es allerdings für weitaus wahrscheinlicher, dass diese Männer Euren Vater schon längst zum Reden gebracht haben. Das wäre nämlich der einzig vernünftige Grund, der erklären würde, weshalb sie aufhörten, Euch zu quälen. Wenn Richard ihnen also all die Auskünfte gegeben hat, die sie von ihm forderten, dann haben diese Männer ganz und gar keine Verwendung mehr für ihn. Im Gegenteil, sein Weiterleben bedeuten eine Verpflichtung, weil sie ihn versorgen müssen, und eine Gefahr dazu. Dieses Risiko werden sie nicht eingehen, erst recht jetzt nicht, nach Eurer Flucht. Und wenn Richard tatsächlich ebenso stolz und trotzig gewesen sein sollte wie Ihr und seinen Mund gehalten hat, nun, dann haben ihn diese Männer längst zu Tode geschunden. Wie auch immer, Richard ist mit Sicherheit nicht mehr am Leben.“
„Und wenn doch?“, schrie Markus. „Wir können doch nicht einfach …“
„Markus!“ Walter drückte den Aufgebrachten in einen der Sessel nieder. „Lasst uns dieses Gespräch auf morgen verschieben. Es wird bereits dunkel und für heute sehe ich keine Möglichkeit mehr, irgendetwas zu unternehmen oder auch nur zu planen.“
„Bis zum Morgengrauen sind Eure grausigen Gedanken vielleicht Wahrheit geworden“, erwiderte der Sohn des Fürsten hart.
„Entweder habe ich Recht und Richard ist längst tot“, antwortete der Ziehbruder des Fürsten ruhig, aber mit einer großen Bestimmtheit. „Oder Richard ist noch am Leben, weil er irgendeine Bedeutung oder einen Nutzen für diese Männer hat. Nun, dann wird er mit Sicherheit morgen noch ebenso am Leben sein wie heute.“
Markus schwieg wütend. „Wie auch immer es sich verhalten mag, diese Ungewissheit ertrage ich nicht“, brachte er schließlich hervor. „Ich werde zu jener Ruine zurückkehren und Richard nach Bernadette bringen. Lebendig oder tot.“
Walter legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Lasst uns morgen früh über unsere Möglichkeiten sprechen“, erwiderte er.
Markus war wieder einmal voller Groll auf den Ziehbruder seines Vaters. Aus welchem Grund begriff Walter denn nicht die Dringlichkeit, zu jener Ruine aufzubrechen? Ging es nicht um Leben und Tod seines engsten Freundes?
Missmutig wühlte der Sohn des Fürsten unter seinen Sachen und holte schließlich seine Waffen aus dem Kasten. Er war froh, dass er damals auf seinen Vater gehört hatte, der ihm riet, sich für die Reise lediglich leicht zu bewaffnen und auch nicht das beste und wertvollste Schwert mit sich zu führen. Nun hatte Markus alles verloren, was er im vergangenen Jahr bei sich getragen hatte und war dankbar, dass ihm wenigstens das teure Kettenhemd und sein Lieblingsschwert nicht abhanden gekommen waren. Er dachte an die lange Zeit der Ausbildung, an all die unzähligen Stunden, die er im Lauf seiner Jugend auf den Übungsplätzen verbracht hatte, um sich für einen Fall wie diesen vorzubereiten. Und nun sollte er tatenlos auf Bernadette hocken und die Vorstellung ertragen, dass jene Männer dort draußen im Wald seinen Vater quälten oder gar töteten. All die harte Arbeit war also vollkommen nutzlos gewesen.
Wie alle anderen Knaben hatte auch Markus die unzähligen Geschichten geliebt, die über Ritter und deren heldenhafte Kämpfe erzählt wurden. Selbstverständlich wollte der Sohn des Fürsten ein ebensolch bewundernswerter Ritter werden, wenn er erst einmal groß war, und er hoffte, dass ihn sein Vater zu diesem Zweck an einen anderen Hof schicken würde.
Doch Richard wollte nichts davon wissen. „Für solch einen Unfug ist mir mein Geld zu schade“, schimpfte er. „Ich habe besseres mit meinem Vermögen vor, als davon drei Schlachtrösser zu kaufen, die ansonsten zu nichts nütze sind, und einen Haufen überflüssiges Blech anfertigen zu lassen.“
Es mochte in den Augen des Fürsten noch angehen, sich zur Unterhaltung hin und wieder eines der Turniere anzusehen, die bei irgendwelchen Festlichkeiten abgehalten wurden, er selbst allerdings legte keinen Wert darauf, an den Kämpfen teilzunehmen, denn viel zu oft trug man die Ritter schwer verwundet oder gar tot vom Sandfeld.
Markus allerdings verfolgte die Turniere mit Begeisterung. Was konnte es denn Großartigeres geben, als sein Können in einem Kampf unter Beweis zu stellen? Die siegreichen Ritter wurden als Helden gefeiert und auch den Unterlegenen oder gar Toten kam jede Ehre zuteil. So träumte der Sohn des Fürsten weiterhin davon, später einmal in den Dienst eines Herrn einzutreten und in dessen Auftrag glorreiche Siege zu erringen.
„Schlag dir das aus dem Kopf!“, zerstörte Richard allerdings die Hoffnungen des Jungen. „Glaubst du, ich habe Lust, dass man mir eines Tages deinen aufgeschlitzten Leichnam oder verstümmelten Körper zurückbringt?“, polterte er. „Du wirst Bernadette einmal übernehmen und ich brauche einen gesunden Erben und keinen Krüppel. Das sind doch alles nichts weiter als Geschichten. Glorreiche Schlachten, dass ich nicht lache! Und der viel gerühmte Heldentod, das ist Verrecken in Dreck und Blut! Schluss jetzt mit diesem Unsinn. Du wirst Bernadette nicht verlassen, denn dein Platz ist hier!“ Dann aber mäßigte sich der Fürst. „Selbstverständlich wirst du aber eine gute Ausbildung und die besten Waffen erhalten“, versprach er schließlich, weil er sah, wie enttäuscht sein Sohn war.
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