Anna nickte ihre Zustimmung und die Frau zog sich zurück.
„Macht Platz und überlasst ihn dem Jungen! Der schätzt es, wenn einer so mutig kämpft!“
Der Herr der Burg hatte sich bislang recht tapfer geschlagen. Mit erhobenem Schwert stand er schützend vor seiner Frau und seinem Kind, und noch war es keinem der Angreifer gelungen, ihn zu Fall zu bringen. Als sich ihm der Junge mit dem nahezu weißen Haar näherte, ließ ihn der Mann nicht aus den Augen. Doch der Junge schnellte vor und schlitzte seinem Gegenüber ohne ein Wort der Vorwarnung den Unterarm auf. Vor Schmerz taumelte der Burgherr ein paar Schritte zur Seite und der Junge nutzte die Gelegenheit, um mit einer heftigen Bewegung die Frau und das Kind hinter ihm hervor zu reißen und die beiden zu einem seiner Kumpanen hinüber zu stoßen. Inzwischen hatte sich der Mann wieder in der Gewalt, wechselte seine Waffe in die linke Hand und begann, auf den Jungen einzuschlagen. Der Kampf war hart, aber es war für alle Beobachter von vorne herein offensichtlich, welcher der beiden Kontrahenten als Sieger hervorgehen würde. Noch im selben Moment, als der Burgherr durchbohrt vom Schwert des Jungen zu Boden sank, erstach der Kumpan die Frau und das Kind.
Ein junges Mädchen, vermutlich die Tochter irgendeines Abhängigen, die ihren Frondienst auf der Burg des Herrn leistete, stand kreischend vor Entsetzen im Hintergrund. Der Mann, der die Frau und das Kind ermordet hatte, trat auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht.
„Halt doch dein dummes Maul, Weib!“, fuhr er sie an und nachdem das Mädchen niedergestürzt war, hob er sein Schwert.
„Lass sie am Leben!“, sagte der Junge. „Ich brauche sie noch.“
Der Mann lachte voller Rohheit. „Kommst du endlich auf den Geschmack?“, fragte er.
Doch der Junge gab ihm keine Antwort. Stattdessen trat er auf das Mädchen zu und riss sie vom Boden hoch. Er zerrte sie den Gang entlang hinter sich her, während er über die Körper der Toten und Sterbenden hinweg stieg, als sähe er sie nicht. Schließlich stieß er das Mädchen in der Küche vor die Feuerstelle.
„Mach mir etwas zu essen!“, wies er sie an und ließ sich am Tisch nieder.
Das Mädchen stand zitternd und weinend vor dem Herd. „Nach was steht Euch denn der Sinn?“, brachte sie endlich mühsam hervor.
„Vollkommen egal“, erwiderte er. „Hauptsache, ich bekomme etwas in den Magen.“
Das Mädchen begann voller Verzweiflung, ein paar Reste vom Vortag über dem Feuer zu erwärmen.
„Das Fleisch auch!“, befahl ihr der Junge und zeigte auf einen enthäuteten Hasen, der über dem Abzug hing.
Das Mädchen briet die Stücke, während ihr unentwegt die Tränen über das Gesicht liefen.
„Hör auf!“, fuhr er sie nach einer Weile an. Und weil sie nicht sofort gehorchte, schrie er: „Ich hab’ gesagt, du sollst aufhören mit der verdammten Heulerei!“
Das Mädchen beherrschte sich mit Mühe und stellte dann den Teller vor dem Jungen auf den Tisch. Er wusch sich nicht einmal das Blut von den Händen, ehe er anfing zu essen und er aß schlimmer als ein Schwein. Sie beobachtete ihn, während er das Essen nahezu hinunterschlang, denn sie wagte ohne seine ausdrückliche Erlaubnis, keinen Schritt zu tun. Mit Sicherheit war der Junge am Tisch nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Und wenn er sich nicht benähme wie ein Tier, so dachte das Mädchen, und wenn er ein wenig mehr Wert auf seine äußere Erscheinung legen würde, so wäre er beinahe als schön zu bezeichnen. Es stand vollkommen außer Frage, was er von ihr wollen würde, wenn er zu Ende gegessen hätte. Aber dennoch, besser dieser, fand das Mädchen, als einer der anderen. Denn die anderen Männer waren ihrer Ansicht nach nichts weiter als stinkend, roh und widerwärtig. Und vielleicht würde dieser Junge sie hinterher sogar gehen lassen, wenn sie fügsam war und sich ihm ohne Widerstand überließ. Er war doch noch ein halbes Kind und sie nichts weiter als ein armes Mädchen, das ihm überhaupt nichts getan hatte. Weshalb sollte es ihn denn danach verlangen, sie zu töten?
Das Mädchen fuhr mit Entsetzen zusammen, als sie wahrnahm, dass der Junge sie wohl bereits seit einer ganzen Zeit beobachtete. Seine Augen waren voller Kälte und Härte und es war nicht das geringste Mitgefühl in ihnen auszumachen. Nein, er würde sie niemals gehen lassen. Er würde sie den anderen Männern übergeben, sobald er mit ihr fertig wäre, und dies würde sie mit Sicherheit nicht lebend überstehen.
„Räum den Tisch ab!“, befahl der Junge. Er klang ein wenig ruhiger als zuvor, vermutlich weil sein Hunger nun gestillt war.
Das Mädchen trug den Teller zum Eimer mit dem Brunnenwasser hinüber. Die Küchentür stand offen und der davor liegende Hof war leer. Wenn es ihr gelang, den Jungen irgendwie außer Gefecht zu setzen, und wäre es nur für einen Augenblick, dann bot sich ihr vielleicht eine Möglichkeit zu entkommen. Das Mädchen warf einen Blick nach dem Jungen. Er war abgelenkt und mit dem Binden seines Stiefels beschäftigt und nahezu unmerklich griff sie nach einem der spitzen Küchenmesser.
Schließlich erhob sich der Junge und trat langsam auf das Mädchen zu, während sich dessen Finger um den Griff des Messers krallten.
„Glaubst du, ich weiß nicht, was du hinter deinem Rücken versteckst?“, fragte er leise. „Nur zu, ich gebe dir einen Versuch.“ Er selbst war unbewaffnet, vermutlich steckte sein Schwert immer noch im Körper des Burgherrn.
Die Hand des Mädchens mit dem Messer schnellte vor, doch er wich ihr mühelos aus. Dann riss der Junge das Mädchen herum und einen Augenblick später fiel sie tot vor ihm in die Asche der Feuerstelle.
Maria presste eine Hand auf ihre Brust, während sie sich damit abmühte, ihren heftigen Atem zu beruhigen. Es waren etliche Stufen vom Keller bis hinauf unter das Dach, wo sich auf dieser Seite des Herrenhauses lediglich die Räumlichkeiten des Fürsten und seiner Gattin befanden. Hier oben war es zwar im Sommer etwas heiß und stickig, dafür lagen die Zimmer aber auch abgeschieden von all dem Lärm und den ständigen Anfragen der Dienerschaft.
„Herrin.“
Elisabeth fuhr herum. Sie hatte am Fenster ihres Zimmers gestanden und wohl ganz und gar gedankenverloren in den Hof hinab gestarrt. „Maria…“, erwiderte sie leise. „Du hast mich erschreckt.“
Seitdem Richard Bernadette verlassen hatte, schien Elisabeth die Räume ihres Gatten zu meiden und sie schlief sogar des Nachts in ihrem eigenen Bett, was sie, wenn sich der Fürst auf der Burg befand, niemals tat.
„Verzeiht mir, bitte“, entschuldigte sich Maria. „Ich wollte nach Euch sehen.“
Elisabeth verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. Doch es schien nicht ehrlich. Schon manches Mal hatte die Dienerin ihre Herrin derart in sich versunken aufgefunden. Und jedes Mal war Elisabeth zu Tode erschrocken gewesen, sobald sie begriffen hatte, dass sie nicht mehr alleine war.
„Ihr habt heute kaum etwas zu Euch genommen“, sprach Maria weiter. „War das Essen nicht nach Eurem Geschmack?“
Die Fürstin schüttelte augenblicklich den Kopf. „Das Essen war vorzüglich“, sagte sie. „Bitte richte den Köchinnen meinen allerherzlichsten Dank dafür aus.“
„Das werde ich“, versprach Maria. Sie musterte die Fürstin verhalten. Elisabeth war blass und in ihren Augen lag eine stumme Trauer.
„Ist Euch unwohl?“, erkundigte sich die Dienerin. „Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?“
Ihre Herrin verneinte abermals. „Nein, Maria“, antwortete sie. „Ich bin nur ein wenig müde.“
Maria diente Elisabeth bereits seit über fünfundzwanzig Jahren und die winzigen Regungen der Anspannung auf deren Gesicht blieben ihr nicht verborgen. Schon seit jeher waren sie das Einzige gewesen, aus dem Maria schließen konnte, was in ihrer Herrin vorgehen mochte und was sie brauchte, denn niemals in all der langen Zeit hatte sich Elisabeth der Dienerin anvertraut.
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