„Ja, das Mädchen ist ein Engel“, erwiderte Johann. „Vor allem, wenn man sich den Bruder daneben vorstellt. Markus’ Erzieher sagte mir einmal …“
„Oh nein!“, fiel die Frau dem Arzt ins Wort. „Die Schuld ist nicht nur Markus allein zuzuschreiben. Richard hatte einen entsetzlichen Mann für seinen Sohn an den Hof geholt, der nicht verstand, mit dem Jungen umzugehen. Er hat kaum etwas anderes getan, als auf ihn einzuprügeln. Ich hörte jeden Tag, wie er das Kind schlug.“
„Dachtet Ihr daran, Markus’ Erziehung zu übernehmen?“, fragte Johann.
Elgita zögerte. „Nun, es kam mir einige Male in den Sinn, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, mit Richard darüber zu sprechen. Markus war nicht nur unbeherrscht, er war auch unbeherrschbar und so fürchtete ich, mir an der Unbeugsamkeit des Jungen die Zähne auszubeißen und so sehr mit ihm beschäftigt zu sein, dass ich das Mädchen nicht mehr hinreichend ausbilden könnte. Also hörte und sah ich weiterhin mit an, wie er von seinem Erzieher misshandelt wurde. Doch jenem Mann ist es niemals gelungen, Markus zu brechen. Im Gegenteil, jeder Schlag ließ den Jungen stärker werden. Als ich irgendwann sah, wie sehr Markus seinen Erzieher hasste, begriff ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre, ehe er es wagen würde, sich gegen diesen Mann auch in körperlicher Art und Weise zur Wehr zu setzen und das wäre mit Sicherheit äußerst übel für den Erzieher ausgegangen. Also ging ich zu Richard und berichtete ihm unter vier Augen, was jener Mann seinem Sohn bereits seit Jahren antat.“ Die Frau seufzte. „Richard entließ den Erzieher noch am selben Abend.“
Johann und Elgita schwiegen eine ganze Zeitlang und leerten ihre Becher.
„Denkt Ihr daran, eines Tages noch weiter in den Norden zu gehen, etwa zurück in Eure Heimatstadt?“, fragte die Erzieherin schließlich.
„Nein.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Bislang ist mir nicht einmal der Gedanke gekommen, Bernadette zu verlassen. Ich wüsste auch nicht, welchen Grund ich dazu haben sollte. Auf der Burg gibt es genug für mich zu tun, hier ist immer irgendjemand erkrankt und kleinere oder größere Verletzungen, die versorgt werden müssen, gibt es jeden Tag. Und Richard ist meiner Meinung nach der beste und fürsorglichste Lehnsherr, in dessen Dienst ich je gewesen bin. Wie oft hat er mich sogar zu einem seiner Leibeigenen gesandt, wenn dieser selbst, dessen Frau oder eines der Kinder erkrankt war, obwohl jener sich eine ärztliche Behandlung niemals hätte leisten können. Aber Richard übernahm alle Kosten der Behandlung ohne viel Aufhebens um die ganze Angelegenheit zu machen. Ja, ich fühle mich durchaus wohl auf Bernadette und so hoffe ich, dass sich nicht allzu bald irgendetwas an diesem Zustand ändert.“ Johann wandte sich der Frau zu. „Auch Ihr seid ebenfalls noch hier, obwohl die Ausbildung des Mädchens seit zwei oder drei Jahren abgeschlossen ist“, stellte er fest. „Bernadette gefällt Euch wohl, genauso wie mir…“
„Ja“, gab Elgita sofort zu. „Auch wenn ich heute lediglich für die Einarbeitung neuer Dienstkräfte zuständig bin und nicht mehr unterrichte, so ist dieser Ort doch zu meinem Zuhause geworden. Ich habe auf so vielen verschiedenen Anwesen gelebt und musste mit so vielen unterschiedlichen Herrinnen auskommen, dass ich aus meiner Erfahrung sagen kann: Bernadette ist wirklich ein Traum zum Leben. Und wer weiß? Vielleicht wird man mir in naher Zukunft die Erziehung von Markus’ und Judiths Kindern anvertrauen. Es würde mir sehr gefallen, wieder zu unterrichten.“
Die Erzieherin blickte beinahe sehnsüchtig vor sich hin.
„Das ist doch nicht dein Ernst!“, schrie Anna so laut, dass es durch das gesamte Herrenhaus zu hören war. „Ihr werdet schon in zwanzig Tagen aufbrechen?“
Markus hatte seine Schwester in sein Zimmer gebeten und dem Mädchen von dem unmittelbar bevor stehenden Aufbruch gemeinsam mit seinem Vater Richard erzählt. Bislang hatte Anna noch nicht einmal erfahren, dass eine erneute Unternehmung anstand.
„Anna“, begann Markus sanft, doch seine Schwester ließ ihm keine Zeit, ihr irgendetwas zu erklären.
„Warum hast du denn nicht früher mit mir gesprochen?“, fiel sie ihm ins Wort. „Willst du mir etwa erzählen, dass du es selbst erst seit gestern weißt? Vermutlich hast du all die Jahre nur darauf gewartet, einmal für so lange von hier wegzukommen.“
„Anna, du weißt, dass das nicht wahr ist“, versuchte Markus sie zu beruhigen. „Hör mir doch einmal zu.“
„Nein!“, giftete das Mädchen ihn an. „Ich bin dir wohl überhaupt nichts wert, sonst würdest du hier bleiben!“ Als ihr Bruder die Hand ausstreckte, um ihre Wange zu berühren, schlug sie danach. „Lass das!“, fuhr sie ihn an. „Glaub nicht, dass du mich einfach so besänftigen kannst.“
Markus jedoch zog seine Schwester auch gegen ihren Widerstand in seine Arme und Anna ließ sich hineinsinken und begann haltlos zu weinen.
„Anna.“ Der Sohn des Fürsten fühlte sich so elend und hilflos, dass er sich beherrschen musste, um nicht mit dem Mädchen mitzuweinen. „Anna“, sagte er noch einmal sehr sanft. „Selbstverständlich bist du mir sehr viel mehr wert als dieser Auftrag, aber du weißt, dass ich mich unmöglich weigern kann, Richard zu begleiten. Ich werde allerdings bald zurück sein und dann ist alles wieder wie früher. Ich verspreche es. Wir werden gemeinsam ausreiten, am Abend zusammen Schach spielen, ich werde dir viele Dinge von der Reise mitbringen.“
Markus sprach eine ganze Zeitlang beruhigend auf seine Schwester ein und versuchte ihr alles zu erklären, doch Anna begriff von seinen Worten lediglich, dass ihr Bruder sehr lange von ihr fort sein würde und sie alleine zurückließe. Und diese Vorstellung war unerträglich. Zwar war es nicht das erste Mal, dass Markus seinen Vater irgendwohin begleiten sollte und seine Schwester auf ihn warten musste, doch niemals zuvor war er für eine solch lange Zeit fortgeblieben. Noch dazu hatten alle vorherigen Reisen spätestens im Herbst ihr Ende gefunden, wenn das Wetter die Wege untauglich machte. Doch dieses Mal würden die beiden wahrscheinlich sogar in den Wintermonaten fern sein und Anna fragte sich bereits jetzt, was sie denn in jener langen, dunklen Zeit ohne ihren Bruder anfangen sollte. Dazu kam, dass sie Markus erst seit kurzem wieder um sich hatte, denn im vergangenen Herbst war er an einer furchtbaren Lungenentzündung erkrankt, die so heftig verlaufen war, dass der Sohn des Fürsten viele Wochen im Bett zubringen musste. Anna war oft bei ihm gesessen, so lange bis sie vor Erschöpfung beinahe eingeschlafen war und Maria sie schließlich in ihr Zimmer gebracht hatte. Das Mädchen hatte gebetet und gehofft, dass ihr Bruder bald wieder genesen mochte und nun, wo er endlich wieder halbwegs auf den Beinen war, da würde er sie erneut verlassen. Das Mädchen weinte sehr lange in Markus’ Armen und atmete dabei seinen vertrauten Geruch ein, als wäre es das letzte Mal. Dann aber riss sie sich zusammen und mühte sich darum, ihrem Bruder mit Freundlichkeit zu begegnen, weil sie sich nicht selbst die letzte gemeinsame Zeit mit ihm verderben wollte.
„Was geht Euch durch den Kopf?“ Walter trat an Heinrichs Seite, der mit zusammengekniffenen Augen zu den Wehrgängen der inneren Ringmauer hinaufblickte.
„Ich versuche gerade zu schätzen, wie viele Söldner wohl derzeit im Dienst des Fürsten stehen.“ Judiths Vater wandte sich dem Mann zu.
Richards Ziehbruder lachte. „Ich kann es Euch sagen, wenn Ihr wollt. Es sind etwa fünf Dutzend.“
Heinrich zog hörbar die Luft ein. „Fünf Dutzend“, wiederholte er und die Bewunderung in seiner Stimme war deutlich zu vernehmen. „Das ist ja nahezu eine Armee. Ich habe kaum mehr als eine Handvoll auf Florentina!“
„Florentina ist auch nur schlecht mit Bernadette zu vergleichen“, merkte Walter an. „Eine Anlage von dieser Größe muss schon entsprechend geschützt werden. Ihr wisst doch selbst, wie es ist. Manch einer würde sich Richards Besitz liebend gerne einverleiben. Und ich bin sicher, dass schon einige einen Versuch gewagt hätten, wenn er nicht so viele und gut gerüstete Soldaten hätte.“
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