Im Verlies der Ruine im Wald hing der Gefangene kraftlos in ein paar Eisenketten an der Wand. Sein Gesicht war nur mehr eine blutige Masse und auch sein Hemd war bereits vollständig durchtränkt.
Einer der Soldaten trat einen Schritt zurück. „Er wird seinen Mund nicht aufmachen, solange wir ihn nicht härter anfassen“, sagte er.
Sein Herr bedachte den Gefangenen mit einem abschätzenden Blick.
„Lasst uns die Eisen zum Glühen bringen und in ein paar Augenblicken werdet Ihr alles erfahren, was Ihr wissen wollt“, fügte der andere Söldner hinzu.
„Noch nicht“, antwortete der Herr. „Macht weiter!“, befahl er dann. „Ins Gesicht und auf die gebrochenen Rippen.“ Er wandte sich um. „Ich komme zurück.“
Der Herr schloss die Tür des Verlieses hinter sich. „Holt den anderen!“, wies er zwei seiner Soldaten an.
Sie gehorchten und kehrten bald darauf mit jenem Mann zurück, der vor nicht allzu langer Zeit unter der Behandlung der Soldaten das Bewusstsein verloren hatte. Sein Haar war blutverklebt und seine Kleider dreckverkrustet. Sie zwangen ihn, vor der Tür des Verlieses stehen zu bleiben. Jedem dumpfen Schlag aus dem Inneren folgte ein Aufschrei voller Qual.
„Jetzt, da Ihr bei wachem Verstand seid“, sagte der Herr schließlich, nachdem er eine ganze Weile mit Ruhe zugesehen hatte, wie der Mann bei jedem Schlag zusammenfuhr und bei jedem Schrei erzitterte, „werdet Ihr mir sicherlich meine Fragen beantworten wollen, nicht wahr?“
„Und wenn nicht?“, erwiderte der Mann voller Verzweiflung.
„Dann lasse ich Euch zusehen.“ Der Herr winkte einen seiner Soldaten herbei.
„Nein!“, entfuhr es dem Mann, noch ehe eine Hand an die Eisentür gelegt worden war. „Ich flehe Euch an, beendet diese entsetzliche Quälerei.“
„Nicht bevor Ihr Euch bereit erklärt habt, alle meine Fragen zu beantworten.“ Der Blick des Herrn war eiskalt.
Der Mann wich ihm aus. „Ich traue Euch nicht“, sagte er. „Wie kann ich Euch trauen?“
Der Herr verzog den Mund zu einem harten Lächeln. „Ich will Euch einen Eid leisten auf das Allerheiligste, das es in meinem Leben gibt, und ich bin sicher, dass es Euch überzeugen wird. Ich schwöre Euch also bei meiner Mutter, meiner lieben, dass ich das hier …“, er klopfte mit der Handfläche gegen die Verliestür, „… augenblicklich abbrechen lasse, sobald Ihr bereit seid, meine Fragen zu beantworten.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Oh Gott, vergib mir!“, sagte er dann leise und holte tief Luft. „Also, was wollt Ihr wissen?“
„Wohin begebt Ihr Euch?“ Walter vertrat Anna den Weg.
„Nur ein paar Schritte durch den Garten“, murmelte das Mädchen vor sich hin.
„Tatsächlich?“ Mit gespieltem Unglauben wandte er den Blick und sah zu den Stallungen der Pferde hinunter, die etwas tiefer und näher zum Tor der inneren Ringmauer lagen und zu denen Anna auf dem Weg gewesen war. „Haltet Ihr es nicht für Eure Pflicht, während des Festes auf der Burg anwesend zu sein?“
Die Tochter der Fürstin mühte sich, wortlos am Ziehbruder ihres Vaters vorüberzugehen, aber Walter griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. „Ihr benehmt Euch wie ein verzogenes Kind!“, fuhr er das Mädchen an. „Was werden wohl die Gäste denken? Und Eure Mutter?“
Anna schwieg trotzig und zuckte lediglich mit den Schultern, bis Walter sie schließlich kopfschüttelnd an sich vorbeiließ.
Während das Mädchen weiter zu den Ställen hinab ging, ärgerte sie sich unmäßig darüber, dass wieder einmal ausgerechnet Walter sie aufgehalten hatte. Diesem Mann schien einfach nichts von dem, was sie tat, zu entgehen und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals ein freundliches Wort für sie übrig gehabt hätte.
„Du nimmst das alles viel zu ernst“, erwiderte Markus allerdings lediglich jedes Mal, wenn Anna sich bei ihm über Walters Art beschwerte. „Er ist schon in Ordnung.“ Dabei geriet ihr Bruder selbst immer wieder aufs heftigste mit diesem Mann aneinander. Dennoch empfand er wohl keine grundsätzliche Abneigung gegen den Ziehbruder seines Vaters, so wie es seine Schwester tat.
Anna seufzte, doch dann vertrieb sie Walter aus ihren Gedanken und freute sich stattdessen auf den herrlichen Ritt, zu dem sie sich nun bereit machen wollte.
„Mein Pferd, bitte“, wies sie einen der jungen Stallburschen an, der ihr entgegenkam.
Und nur wenig später führte dieser die gerichtete Stute aus dem Inneren in den Hof hinaus. Annas Pferd war ein herrliches Tier mit einem wunderbar seidigen Fell, von einer Farbe wie eine Mischung aus fließendem Gold und Silber. Sie hatte niemals gewagt, danach zu fragen, aber sie war sicher, dass die Stute ihren Vater Richard sehr viel Geld gekostet hatte. Als seine Schwester sich halbwegs auf dem Rücken des Pferdes halten konnte, ging Markus zu Elisabeth und bat seine Mutter auf Knien darum, dass er das Mädchen zu seinen täglichen Ritten in den Wald und die nähere Umgebung der Burg mitnehmen dürfte.
„Ja, ich gestatte es“, sagte die Fürstin schließlich, nachdem sie ihren Sohn eine Weile gemustert hatte. „Aber Markus“, fügte sie hinzu, „du bist dir hoffentlich darüber im Klaren, dass Anna noch sehr jung ist. So kann ich doch wohl davon ausgehen, dass du sie niemals alleine lässt, was auch geschehen mag, und dass du weißt, welche Orte sich für ein Mädchen ihres Alters ziemen und welche nicht.“
„Gewiss.“ Markus lächelte unschuldig.
„Und dass du deine Schwester selbstverständlich nicht in eines der Dörfer mitnimmst, solange ich nicht mein ausdrückliches Einverständnis dazu gegeben habe“, fuhr die Fürstin fort.
„Selbstverständlich nicht“, wiederholte Markus und kreuzte zur Vorsicht seine Finger hinter dem Rücken.
Von da an waren die Geschwister nahezu jeden Tag gemeinsam ausgeritten und bald kannte auch Anna rund um Bernadette jeden Winkel. Im Lauf der Monate und Jahre, die vergingen, hatten sich die beiden allerdings immer weiter von der Burg und den unmittelbar angrenzenden Feldern entfernt, viel weiter als Elisabeth es wissen durfte.
Doch nun, seitdem Markus gemeinsam mit Richard aufgebrochen war, war dem Mädchen nichts anderes übrig geblieben, als täglich alleine auszureiten, denn Elgita behauptete, dass das Geschaukel auf dem Pferderücken der Tod für ihr Kreuz wäre und Maria hatte immerzu irgendetwas zu tun.
Die Sonne brannte vom Himmel und binnen kürzester Zeit rann Anna der Schweiß von der Stirn. Deshalb beschloss sie, zu jener kleinen Grotte zu reiten, die sie vor Jahren einmal gemeinsam mit Markus entdeckt hatte. Eigentlich war es nur ein annähernd halbrund geformter Felsen, der jedoch so schräg nach vorne über dem Waldboden aufragte, dass die Wände eine Art überkragendes Dach bildeten. Im Inneren der Grotte entsprang im hinteren Teil aus dem Stein eine Quelle, deren Wasser sich in einem seichten Becken sammelte, ehe es als feines Rinnsal über den Boden floss. Es war ein herrlicher Ort und Anna und Markus waren sehr oft hierher gekommen. Im Hochsommer hatten sie Schutz vor der glühenden Sonne gesucht und im Herbst vor den plötzlich einsetzenden Regenfällen.
Anna glitt aus dem Sattel. Sie schöpfte mit beiden Händen Wasser, um zu trinken und sich das Gesicht zu erfrischen, danach führte sie auch ihr Pferd zur Wasserstelle. Anschließend ließ sie sich auf dem mit Moos und weichem Gras bewachsenen Boden nieder und während die Stute gemächlich vor sich hin zupfte und kaute, blickte Anna zu dem mächtigen Felsen über ihr auf. Dabei kam ihr das Gespräch mit Bianca wieder in den Sinn. Wie sehr hatte sich die ehemalige Freundin in den vier Jahren, die vergangen waren, verändert! Wie wenig verband die beiden Mädchen noch miteinander! Und wie unterschiedlich war tatsächlich die Stellung, die jede von ihnen innehatte. Doch ein Leben wie Bianca es führte, erschien Anna das Langweiligste und auch Abstoßendste, das sie sich vorstellen konnte, obwohl sie sehr wohl wusste, dass ihre frühere Freundin nun das Leben einer ganz gewöhnlichen Lehnsherrngattin führte. So bekam auch Bianca ein Kind nach dem anderen, saß vermutlich die meiste Zeit mit ihren Frauen in den Kammern und verbrachte die endlosen Stunden des Tages damit, ihre Kinder zu versorgen, zerrissene Kleider zu flicken und über belangloses Zeug zu reden. Auch Biancas Gatte war wohl ein ganz gewöhnlicher Ehemann, wenn gleich gewiss kein besonders guter und liebevoller, machte er doch nicht einmal einen Hehl daraus, dass er sich zur Abwechslung gerne hin und wieder die eine oder andere Frau in sein Bett holte oder zumindest gerne geholt hätte.
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