Schon mit der Rückkehr von seinem ersten Ausflug ins Jenseits dieser Mauer, die die Menschen vor Lug und Betrug beschützen sollte, so hätte ich Eve gerne und ausführlich meinen Seelenkummer offenbart, führte man fortan ein anderes Leben. In der herkömmlichen Welt hatte sich nichts verändert. Alles war so, wie man es kannte, doch danach lebte man mit ihm wie mit einem unsichtbaren Makel, der an einem haftete wie ein Schmierenpelz unter der Haut. Waschen half nicht, eher schon permanentes Verdrängen. Man trug ihn als Geheimnis nicht in sich wie einen kostbaren Schatz, denn das Gewissen hielt einen nicht davon ab, ihn zu begehen, wohl aber, ihn zu genießen. Um ihn zu vollziehen, musste man abgebrüht sein. Er kannte weder Warnung noch Rücksicht. Und nicht einmal, wenn man sich verschleudert hatte, konnte man sein Beschämen mitteilen. In den meisten Fällen folgte seiner Überwindung keine Berechnung. Ort und Zeit waren nicht bestimmbar. Es passierte einfach, wenngleich die Sinne in einem längst schon nach ihm gegiert hatten.
Man schlich entlang, an diesem Mauerwerk, schlenderte wieder davon und fragte sich, wie es dahinter wohl aussah. Beim nächsten Mal erklomm man die wenigen Vorsprünge und kletterte ein Stück hinauf, doch der Mut war noch nicht groß genug seine Skrupel zu bezwingen. Bereits hier aber zeichnete er sich ab, denn wer diese Mauer suchte, wollte auch über sie. Man suchte die Befreiung, die keine war, und man wusste darum. Der Alltag zwang einen die Sehnsucht nach diesen Ausflügen kontrollieren zu müssen, doch je länger man sein Leben im Diesseits lebte, desto magischer zog er einen an. Weggefährten offenbarten sich und sie berichteten einem von ihren Kletterkünsten auf den Sims, von ihrem Absprung und von ihrer Landung. Der Ausflug dauerte in der Regel nur ein paar Stunden und es war klug, sich den Weg für seine Rückkehr ebenso zu merken wie eine Erklärung für seine kurzzeitige Abwesenheit.
Es war zuallererst eine Frage der Veranlagung. Hatte der Teufel grundsätzlich eine Chance bei einem, war es so, als ob man etwas stahl, seine Mutter belog oder beim Verkauf seines Autos den Unfall verschwieg. So wie andere mit Gut und Böse rangen, führte man mit ihm einen langen, inneren Dialog. War die unaufhörliche Auseinandersetzung erst einmal in Gang gesetzt, stand am Ende sein unumstößlicher Vollzug.
Die Gründe sich für ihn zu entscheiden, waren dabei vielfältig, meistens aber ziemlich banal. Dann war er da, der Tag der Begehung. Man kletterte über die Mauer und sprang geradewegs in die Unordnung. Das Risiko, für seine Überwindung bestraft zu werden, war hoch. Also musste es sich lohnen. Man wusste genau, was man vorfand, schließlich hatte man seine Augen immer intensiver für nichts anderes geschärft. Für die Dauer seines Aufenthalts waren Frust und Sorgen gleichgültig. Der Drang nach Befriedigung nahm jeden Verstand. Hatte man ihn, genussvoll oder nicht, vollzogen, war zu schweigen erste Pflicht, schon aus reinem Selbstschutz. Man kletterte zurück in die alte Ordnung und tat, als war nichts geschehen. Mitunter kam es vor, dass einige so entsetzt über ihn waren, dass sie ihn enttarnten und damit ihr Leben, wie ich fand, unnötig verkomplizierten.
Ich stellte sie mir vor, diese Mauer von unabschätzbarer Länge. Überall auf der ganzen Welt kletterten sie an ihr hinauf, entweder im Diesseits oder auf der anderen Seite, um sich unerkannt zurück in das alte Leben zu schleichen. Längst schon war eine heimliche Massenwanderung unterwegs, millionenfach hin und her, tagtäglich und vor allem lautlos, weil darüber zu reden, sich zu brüsten gar, niemandem gut tat. Es nahm einem die Möglichkeit, ihn unbemerkt zu wiederholen. War man nämlich erst einmal über die Mauer geklettert, tat man es wieder. Immer wieder.
Wann ich ihn verrichtet hatte, den ersten Betrug an Eve, wusste ich nur allzu gut. Sie war um die dreißig und besaß ein Paar prächtige Brüste, zwischen denen ich gleich zu Beginn unserer wilden Körperlichkeiten abwechselnd meinen Kopf und mein Gemächt legen durfte. Eve war an diesem Wochenende zusammen mit ihrer besten Freundin nach Berlin gefahren, während ich in einer Bar eine Begegnung gemacht hatte, die mir im Laufe ihrer Dauer wie verfügt erschien, weil die Dame zum einen sehr genaue Vorstellungen vortrug, was sie wollte und zum anderen ausgiebig zu erkunden bereit gewesen war, was sie noch nicht wusste.
Wieder fiel mein Blick auf die Frau, die ich liebte. Schuldgefühle plagten mich und Bedauern ersetzte jene Gleichgültigkeit, mit der ich mich hatte treiben lassen. Ich fragte mich, ob mich meine Märchenfee mit ihrem Entzug von Hemmungslosigkeit für die Unzulänglichkeiten bestrafte, die sie an mir ausgemacht hatte. Mit Eve zu verschmelzen war zu einem routinierten Akt verkommen. Ich dachte ihr die Wahrheit an, wenn sie schlief. War sie wach, dachte ich nicht einmal mehr an meine Lügen. Den Frauen an meiner Seite war ich noch nie treu gewesen, und wie bestellt rollte die junge Frau wieder an mir vorbei, die lässig ihr Haupt in die Kopfstütze gelegt hatte, herüberschaute und lächelte. Ich erwiderte ihren verspielt unanständigen Blick. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, verband uns die Vorstellung gegenseitigen Entdeckens. Wo, wie oder wann auch immer. Wer sich mit den Menschen beschäftigte, konnte ihnen ansehen, wenn sie das Abenteuer suchten. Das Augenpaar neben mir verriet ohne jeden Zweifel lustvoll das Verlangen nach einem Ausflug jenseits der Mauer.
Für die Dauer eines Menschenlebens sein privates Glück in der eigenen Dummheit zu suchen, sinnierte ich weiter, weil der Wagenlenker erneut jeden Kontakt unterbunden und sich vor uns gesetzt hatte, war wirklich meine Sache nicht. Ich hatte gelernt, mich zu arrangieren. Ich wusste, wie dumm und töricht Anarchie war. Systeme, gleichgültig ob öffentlicher oder privater Art, ließen sich nicht verändern, in dem man sie von außen bombardierte. Sie ließen sich gar nicht wandeln, selbst durch beharrliches Mitwirken in ihnen nicht, was die Alternative zu Blut und Terror war.
Ich hatte dennoch meinen Platz gefunden. Ich arbeitete als Autor und Regisseur und hatte im Laufe der Jahre einen minimalistischen Lebensstil kultiviert. Je weniger Schlüssel an meinem Bund hingen, desto freier fühlte ich mich. Mir gefiel die Vorstellung, innerhalb weniger Minuten alles Wichtige und Wertvolle zusammenraffen zu können, wollte ich mein Leben umgestalten. Ich schätzte es als Geschenk, den Menschen auf die Finger schauen zu dürfen und dafür sogar noch bezahlt zu werden. Doch es war einfach fatal. Je mehr und öfter ich zu denken in der Lage war, desto schwieriger wurde alles. Es war sinnlos. Total sinnlos. Es war absurd, in Systemen und in der Liebe gleichermaßen. Warum nur belegten die Menschen sich selbst und ihre Gefühle fortwährend mit Konventionen und Kleingeistigkeiten, die zu nichts mehr taugten, als ihnen früher oder später Glück und Freiheit zu nehmen?
Was bloß wollte ich mir gerade selbst erzählen, erkundigte sich der letzte Rest meines verbliebenen Scharfsinns. Es war so weit. Weil sich der Segen in der Liebe wieder einmal verflüchtigt hatte, stand wie selbstverständlich gleich die ganze Existenz in jämmerlicher Dramatik auf dem Prüfstand, mit dem betrüblichen Verdacht, dass ich es war, der zunächst sich selbst und dann anderen im Weg stand. Ohne mich wäre die Welt um mich herum so, wie es das Glück der anderen vorsah. Weil es mich gab, hatten andere in ihrem Leben so wenig schaffen können.
„Was denkst du gerade?“ wollte Eve plötzlich wie verfügt von mir wissen und sah zu mir herüber.
Wir hatten bereits in einem unserer ersten Gespräche vereinbart, dass der jeweils andere zügig und ehrlich zu antworten hatte, wenn einer von uns diese Frage gestellt hatte. Kein Mensch dachte tatsächlich an nichts.
„Dass neunzig Prozent der Menschheit dumm und blöd sind. Und ich nicht weiß, in welchem Anteil es sich besser lebt.“
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