Die folgende Stunde unserer Unterredung versank im Meer allgemeiner Belanglosigkeiten. Karo war schlau, dachte ich bisweilen. Karo war ein Luder, dachte ich in anderen Momenten. Auf jeden Fall war sie Eves beste Freundin. Mit roten Lippen und tief geschnittenem Top wollte sie tatsächlich glänzen, wie sie offenbarte. Sie war nicht auf der Suche. Aber es könnte ja geschehen, wie sie schluchzte. Dass ihr ein cooler Kerl begegnete, einer, der ihr Interesse und mehr reizte, einer, der einen Ritt ins Abenteuer wert wäre. Dann würde sie sich ärgern, wenn sie nicht wenigstens ein kleines bisschen darauf vorbereitet gewesen wäre. Karo war eindeutig auf der Suche nach dem Einen von Zehn von Hundert, schoss es mir ins Hirn, als sie sich selbst, und nach ihrer Meinung die Frauen ganz grundsätzlich, in ihrem Auftreten und Spielverhalten erklärt hatte.
Und doch. Die Wahrheit war eine andere. Ich war tatsächlich ein Narr. Denn dass sich Karo mit mir verabredet hatte, weil sie tatsächlich mehr von der Frau wusste, die ich liebte, die aber gleichzeitig so wenig dafür tat, dass ich es beruhigt tun konnte, und dass sie bereit war ihre Freundschaft zu riskieren, weil sie an dem Glück dieser Frau interessiert war, lag fern ab jeder meiner Wahrnehmung. Für meine Beschränktheit im Zustand meiner Schmerzen sollte ich noch bitterlich büßen.
Ich verharrte. So hatte ich ihn noch nie gesehen, so nahe, wie ich auf ihn blicken konnte, war ich ihm noch nie gekommen. Alle morgendlichen Routinen wie Einzelfrühstück und Körperhygiene waren erledigt. Zwei Glas Wein hatte ich am Abend zuvor mehr gehabt als Karo, die plötzlich vorgegeben hatte, sich für den Arbeitstag schonen zu müssen. Von der Nacht hatte ich nichts mitbekommen. Demnach durfte ich davon ausgehen, dass ich sie einigermaßen ruhig verbracht hatte.
Nun stand ich im Schlafzimmer Kopf, eine Stellung, die ich gelegentlich, vornehmlich während einer Schreibphase, aufsuchte, um aus anderer Perspektive einen neuen Zugang zu erlangen. Ich war nackt. Und mein ständiger Begleiter hing befriedet meinen Bauch entlang in einer Position, von der ich nach reiflicher Überlegung sagen durfte, dass sie genauso ungewollt wie einmalig war. Je länger ich auf ihn schielte, desto mehr verkrampften sich Muskeln. Eine Frage war so überraschend aufgekommen, dass ich mir selbst mit der ersten Suche nach einer Antwort attestierte, endgültig verrückt geworden zu sein. Wie oft schon war ich in eine Frau eingedrungen? Noch unerklärlicher war mir, dass ich diese Frage fortan nicht mehr aus dem Kopf bekam. Wie oft hatte er dort gesteckt, wo nach der Rückkehr früher oder später doch nur Unheil auf mich wartete? Ich ergab mich schließlich. In böser Vorahnung, wieder aufrecht, mit seiner Verhüllung und einem neuen Kaffee, begann ich, zunächst eher zaghaft, dann energischer um ein verlässliches Ergebnis bemüht, zu bilanzieren.
Meine Rechnung war schockierend. Siebenunddreißig Lebensjahre. Sieben Jahre in festen Händen. Mit sechzehn hatte es begonnen. Machte demnach vierzehn Jahre, in denen ich zwei bis drei im Monat, also etwa dreißig im Jahr... Es waren hunderte. Überschlägig über vierhundert. Frauen. Frauen, Menschen also, keine Euro, keine Mark und auch keine Kilometer. Ich war fassungslos. Das konnte nicht sein. Doch es war so. Etwa fünfzig einstige Gespielinnen fielen mir auf Anhieb namentlich ein, als ich das Alphabet innerlich nach ihren Namen durchgegangen war, etwa doppelt so viele befanden sich in dem Speicher meines alten Telefons.
Über all die Jahre fiel ich, erneut vorsichtig geschätzt, drei- bis viermal die Woche allein in Bars hinein und oft zu zweit wieder hinaus. Blieb der Kontakt zu jenen Mädels aufrecht, erweiterte sich der Kreis williger Frauen noch einmal, nämlich dann, wenn die Freundinnen in mein Beuteschema passten. Das Spiel mit dem anderen Geschlecht war ein Sport geworden, über Jahre vervollkommnet, für das es aber weder einen Lohn noch einen Preis gegeben hatte. Allein die Akzeptanz war meine Vergütung. Hamburg bot die besten Reviere. Kiez, Schanze, Hamburger Berg, Eppendorf, Neustadt, Eimsbüttel – es gab nicht eine Bar, die ich nicht kannte. Nach kurzer Zeit wusste ich, welcher Frauentyp wo bevorzugt verkehrte, was sie mochte und was sie gerne hörte, stellte Mann sich ihr vor. Ein paar Drinks reichten meistens, um Zunge und Zweifel zu lösen.
Mir fielen meine Auslandsaufenthalte ein, Polen, Dänemark und England, wo ich ein paarmal für jeweils einige Wochen als Journalist gearbeitet hatte. Die Frauen dort waren unverkrampfter, weiblicher und vor allem unkomplizierter als in der zwischenmenschlichen Wüste Norddeutschland samt ihrer so genannten Weltstadt. Ich erinnerte mich an Dreharbeiten auf Jamaika, wo die Nächte anstrengender waren als die Tagesleistung. Auch drei Jahre Los Angeles waren entgegen allen gemeinhin geäußerten Bekundungen von angeblich typisch amerikanischer Prüderie eine Hochburg der Lust gewesen. Wieder angekommen bei jenem hohen Beischlafergebnis, das mich selbst gehörig verblüfft hatte, zählte ich die Begegnungen hinzu, die ich zu meinen Zeiten als Fotograf vor der Linse und im Bett hatte und addierte sie mit denen, die ich in zahlreichen Urlauben auf Ibiza, Mallorca, Tarifa oder sonst wo besamt hatte. Mitunter war es vorgekommen, dass ich an einem Wochenende mit zwei Frauen intim geworden war, innerhalb eines Tages.
Der Anzahl gehabter Frauen setzte ich die entgegen, mit denen ich mir hätte vorstellen können, sie zu ficken, es aber nicht tat, weil sie mich nicht wollten. Meine Rechnung durfte nicht stimmen, dachte ich und versuchte gewisse Fehlzeiten anzurechnen, wenn ich beispielsweise von morgens bis spät abends gearbeitet hatte und aufgrund von Krankheit, Muskelkater oder Lustlosigkeit einfach Zeit und Kraft fehlten. Das beruhigte zwar, änderte aber an dem Zahlenwerk so gar nichts. Die Vermutung lag nahe, dass es durchaus noch ein paar mehr gewesen waren.
Eine ganze Weile dachte ich über das Wort nach, das beschrieb, was ich derart oft getan hatte. Ich hatte gefickt. Ficken war vulgär, doch von der Allgemeinheit so selbstverständlich verstanden wie gebraucht, dass diese Bezeichnung sogar im Duden stand, als derbe Formulierung für Koitus. Ich konjugierte koitieren, konnte diesem Synonym aber für den Sprachgebrauch im Alltag so wenig abgewinnen. Ficken als Morphem war Lust. Ficken war Begierde, Ficken war Trieb. Schnell und befriedigend, rücksichtslos und so leicht zu haben wie eine beliebige Ware unserer Wegwerfgesellschaft. Im Gegensatz dazu liebte man sich, schlief miteinander oder vollzog Beischlaf. Ein paar Gedanken später war ich mir sicher, das, was ich so oft vollzogen hatte, weiterhin schamlos als Fick zu bezeichnen, denn mit der Geschichte von dem kleinen Jungen, der nicht wusste, ob er in den Bergen oder an der See seinen Urlaub verbringen sollte, also zunächst die oberen oder doch die unteren Regionen einer Frau reizen sollte, musste man den Mädels ohnehin nicht mehr kommen. Spätestens, wenn man mit einer Frau nackt im Bett lag, war klar, dass etwas, mit körperregionalen Unterschieden, irgendwie in etwas anderes gehörte.
In der Logik einer ernst gemeinten Aufarbeitung, wer der wahre Verlierer dieser Exzesse war, ließen sich einfache Fragen nicht länger ignorieren. Worin lag der Sinn von Triebhaftigkeit? Was hatte er mir gebracht? Welche Erkenntnis konnte ich daraus gewinnen, mich hundertfach verschenkt zu haben? War mein Großstadtleben Segen oder Fluch? Gut! Ich durfte davon ausgehen, dass ich über durchaus brauchbare Erfahrungen im Umgang mit den Verlorenen meiner Stadt verfügte. Doch was nutzten sie?
Ich hatte bis heute einen ausgesprochen geduldigen Schutzengel, schoss es mir bei der Suche nach den Antworten als nächstes durch ins Bewusstsein, einen fassungslos dreinschauenden Bediensteten von Gottes beflügeltem Personal, der mich dennoch wunderbar begleitet hatte. Ich sah ihn neben mir stehen, kopfschüttelnd und nach jedem Akt den Schweiß von der Stirn wischend, weil mir kein Unheil widerfahren war. Vermutlich hatte ich sogar mehrere dieser Jungs verschlissen. Ich war gesund und Kinder hatte ich auch keine, jedenfalls wusste ich von keinem, was spätestens dann der Fall gewesen wäre, wenn ich hätte Unterhalt zahlen müssen, um den Unglücksfall einer Geburt in bezahlbare Bahnen zu lenken, weil ich als Vater nicht erwünscht war.
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