Also wenn das so weiter ging, konnten sie gleich auf die Intensivstation abbiegen.
Jack hatte keine Lust, seinen Schützling zwischen irgendwelchen Grabsteinen wiederzubeleben. Schweigend fuhren sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage des Präsidiums. Dort erwartete sie bereits ein Viererteam. Die Beamten des SEK standen an den geöffneten Türen des schwarzen 7-sitzigen SUVs. Eine Neonröhre flackerte und verwandelte das Bild in ein hollywoodtaugliches Ambiente. Wenn jetzt Keanu Reeves in seinem Ledermantel um die nächste Ecke stolziert wäre, hätte sich Jack kaum gewundert. Diese Mr. Smiths erfüllten aber auch zu perfekt das Klischee vom unauffällig-auffälligen Agenten.
Was Jack jedoch mit einer gewissen Erleichterung feststellen konnte, war, dass sich seine Schutzbefohlene langsam zu beruhigen schien.
Die Fahrt dauerte keine zwei Minuten. Jack beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie blickte starr geradeaus, ihre Atmung war wieder völlig normal. Mit jedem Meter, den sie sich vom Präsidium entfernten, wich die Anspannung wie ein böser Spuk und ihr Selbstbewusstsein nahm spürbar wieder zu.
Was hatte ihr im Präsidium so sehr zugesetzt?
Die Stille im luxuriös dahingleitenden SUV wich einer wuseligen Geschäftigkeit, als sie vor dem ehrwürdig klassizistischen Eingang des Frankfurter Hauptfriedhofs, dem Alten Portal ausstiegen.
Ohne ein weiteres Wort bildeten die 4 SEKler nun zusammen mit Rodgaus, Jack und ihr eine perfekte 3er Rotte. Jack hätte nicht sagen können, ob und wie die Männer sich untereinander verständigt hatten, als sie sich absolut synchron mit ihnen in Bewegung setzten und nach ein paar Metern unbehelligt den Friedhof betraten.
Gerade als sie in dieser eigentümlichen Formation auf den kleinen freien Platz hinter dem Portal hinausmarschierten, brach Rodgaus Stimme das anhaltende Schweigen. Er wandte sich direkt an sie.
„Sie haben eine Stunde. Machen Sie keine Mätzchen. Meine Männer werden Sie im Auge behalten.“ Und da die Angesprochene keinerlei Reaktion zeigte, fügte Rodgaus noch an:
„Sollten Sie dennoch versuchen zu fliehen, sich zu verstecken oder Herrn Kosinski in irgendeiner Weise bedrohen, so können Sie sicher sein, dass meine Jungs dies als willkommene Einladung zu einer Runde „maximal invasives Krisenmanagement“ auffassen werden.“
Ohne eine Antwort abzuwarten und mit einem unmerklichen Kopfnicken zu den wartenden Männer schlenderte Rodgaus in Richtung des Grabes von Johannes von Miquel davon, der 1890 Finanzminister und Erfinder unseres Steuersystems war. Sekunden später war von den Sicherheitsbeamten keiner mehr zu sehen. Sie waren allein.
Unschlüssig und auch ein wenig verunsichert standen sie beide reglos nebeneinander. Jack sog nervös die frische, angenehm kühle Friedhofsluft in sich ein. Er konnte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht spüren und fragte sich gerade, ob es für seine Begleiterin nicht besser wäre, einen Schattenplatz aufzusuchen, als die sich einfach in Bewegung setzte und den Weg rechter Hand entlang der alten Friedhofsmauer einschlug. Jack schüttelte leicht gereizt den Kopf. Dafür, dass sie eben noch ein Häuflein Elend gewesen war, konnte sie jetzt schon wieder wunderbar unnahbar und arrogant den Ton oder besser die Marschrichtung angeben.
Er seufzte leise und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Als er zu ihr aufgeschlossen hatte, brach er das anhaltende Schweigen, eine Spur unfreundlicher als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
„Ich bin Jack, Jack Kosinski.“
Schnell schob er nach:
„Es freut mich, dass Sie die Geschichte so gut überstanden haben.“
Er stockte.
„Ich meine, die kurzen Haare stehen Ihnen wirklich gut.“
Was redete er nur für einen Stuss .
„Bei der Hitze hätte ich gedacht, dass Sie schlimme Verbrennungen davontragen würden. Es grenzt beinahe an ein Wunder...“
„Ein Feuerwehrmann der an Wunder glaubt?!“, unterbrach sie ihn leise. Und Jack, der Mühe hatte sie zu verstehen, war sich nicht sicher, ob ihre Stimme dabei spöttisch oder erstaunt geklungen hatte.
„Ich stand exakt unter der wahrscheinlich einzig funktionierenden Sprinklerdüse. Ich glaube ich wäre eher ertrunken als verbrannt, soviel Wasser hat dieses Teil über mir ausgespuckt.“
Sie hielt einen Moment inne.
„Außerdem reagiere ich auf Stresssituationen sehr speziell. Meine Körperfunktionen reduzieren sich drastisch. – Deshalb habe ich auch keine Rauchvergiftung und nur Verbrennungen ersten und zweiten Grades.“
Sie blieb plötzlich stehen und umarmten Jack ohne Vorwarnung.
„Danke“, hauchte sie an seinem Ohr.
Jack wurde abwechselnd heiß und kalt. Er konnte ihren durchtrainierten, athletischen Körper spüren, der sich wie selbstverständlich an den seinen schmiegte.
Mann, Mann, Mann.
Jack spürte ihre straffen Brüste, die sich in der Umarmung angenehm an seine Brust drückten. Der Trainingsanzug roch nach einem Billigwaschmittel, konnte aber ihren angenehm süßlich herben Körpergeruch nicht ganz überdecken. Jacks Hals war auf einmal staubtrocken. Ehe er noch etwas erwidern konnte, war dieser überraschende Moment der Nähe auch schon wieder vorüber und sie wandte sich von ihm ab. Völlig überrumpelt presste Jack ein:
„Ich... ich hab nur meinen Job gemacht... ich meine, ich hab ihn natürlich gern gemacht…“ heraus.
Sie schien ihn gar nicht zu hören. Stattdessen starrte sie, wie Jack jetzt erst bemerkte, gedankenverloren auf das schlichte weiße Steinkreuz mit den eingravierten, schwarzen Lettern: Pauline Schmidt.
Paulines Grab war ein beliebtes Touristenziel. Jack hatte selbst schon oft davor gestanden. Das im Jahre 1858 verstorbene Mädchen hatte dem Frankfurter Psychiater und Kinderbuchautoren Heinrich Hoffmann zur Vorlage für eine Geschichte in seinem bekanntesten Werk gedient. Dem Struwwelpeter.
„Nennen Sie mich Lina“, murmelte sie unvermittelt und verstummte sofort wieder. Offenbar war sie sich ihrer Sache weit weniger sicher als sie vorgab.
Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht, ging es Jack durch den Kopf.
„Hören Sie Lina, ich bin ein einfacher Feuerwehrmann. In der Regel habe ich wenig Interesse an Problemen anderer Leute. Eben weil diese Probleme nicht meine sind und ich in meinem Job leider viel zu oft das Ergebnis irgendeiner Einmischung aus einem Wagen schneiden, von Fenstersimsen zerren oder vom Boden abkratzen muss. Verstehen Sie?“
Jack zögerte kurz, da von ihr aber keine Reaktion kam, fuhr er mit schonungsloser Offenheit fort.
„Ich habe einfach keine Lust bei der schon zwanghaft gewordenen Dramatisierung des Banalen mitzumachen.“
Jack wartete vergeblich auf eine Reaktion, dabei war er sich nicht einmal sicher, ob Lina ihm überhaupt zuhörte.
„Sie stehen mitten in der Nacht im lichterloh brennenden 16ten Stock eines Bankenhochhauses. Um sie herum liegen zwei, drei bestialisch zugerichtete Leichen und Sie brüllen nach einem Typ namens Karl. Wir holen Sie da raus, weil es unser Job ist. Das Boulevard macht die unvermeidliche Heldennummer daraus. – Und Ende der Geschichte! Verstehen Sie? So läuft das für gewöhnlich und so mag ich das auch! – Vom Heldenschwachsinn mal abgesehen. – Stattdessen lustwandle ich hier mit ihnen über den Frankfurter Hauptfriedhof, weil die quotengeile Medienlandschaft diesen billigen Überfall zum Terrorakt hochstilisiert hat und dem großartigen Herrn Generalbundesanwalt der Allerwerteste auf Grundeis geht. – Hab ich noch was vergessen? – Ach ja, natürlich! – Jede völlig banale Geschichte braucht selbstverständlich etwas Geheimnisvolles! – Und das hat Madame freundlicherweise gleich mitgeliefert. Weil Madame es nämlich vorzieht zu schweigen!“
Jack hatte sich in Rage geredet und starrte Lina jetzt herausfordernd an.
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