Es ist klar, dass dies nur so geschehen konnte, weil die Völker, welche in Kontakt mit den Römern standen, die römische Kultur und Identität nicht annahmen, sondern bei ihren (aus Sicht der Römer rückständigen) Traditionen, trotz deren Nachteile, blieben.
Man kann davon ausgehen, dass genau dieses Verhalten sich dann evolutionär verfestigte, weil es mit klaren Vorteilen verbunden war.
Je geschlossener eine Minderheit sich gegenüber einer Mehrheit verhält, umso größer sind ihre Chancen, nicht nur als genetische Einheit zu bestehen, sondern auch die Mehrheit von bestimmten Territorien zu verdrängen.
Hat die Minderheit es geschafft, einen kleinen Bereich autonom von dem Einfluss der Mehrheit abzukoppeln, ist dies für die Mehrheit ein irreversibler Vorgang.Ist ein solcher Prozess einmal abgeschlossen, ist die Wahrscheinlichkeit, diesen autonomen Bereich auszudehnen oder weitere autonome Bereiche zu gründen, ausgesprochen hoch. Allerdings ist es dazu notwendig, dass die Gruppierung (vordergründig kulturell, im Grunde genommen aber genetisch) geschlossen bleibt. Das geschieht durch Religion oder auch durch weltliche Anschauungen, die dann aber deutliche religiöse Züge tragen. Auch deshalb mussten Religionen in der Menschheitsgeschichte entstehen.
Denn Gruppierungen mit einer Religion hatten gegenüber Gruppierungen ohne Religion einen ganz klaren, evolutionären Vorteil. Daher wurden Gruppierungen ohne Religion komplett verdrängt.
Dass Gruppierungen mit Religion gegenüber Gruppierungen ohne Religion einen klaren Evolutionsvorteil hatten, beweist der Erfolg von religiösen Gruppierungen beziehungsweise das Aussterben von nichtreligiösen Gruppierungen. Darüber hinaus ist es aber sogar so, dass strenge religiöse Gruppierungen einen Evolutionsvorteil gegenüber moderaten haben. Beispielsweise steigt die Anzahl der Kinder pro Paar mit deren Religiosität proportional an.
Bezogen auf die Verdrängung von Gruppierungen führt dies zwangsläufig dazu, dass Mitglieder einer Minderheit gegenüber den Mitgliedern einer Mehrheit weniger tolerant sind als die Mitglieder der Mehrheit gegenüber den Mitgliedern der Minderheit.
Diese Bedingung ist eine Zwangsbedingung der Verdrängung. Das heißt, dass diese Bedingung erfüllt sein muss, damit Verdrängungsprozesse in Kraft treten.
Diese Tatsache erscheint zunächst paradox, denn schließlich befindet sich die Minderheit in einer gegenüber der Mehrheit unterlegenen Position. Sie muss aber unbedingt eine Abgrenzung an den Tag legen. Tut sie das nicht, löst sie sich schlichtweg in der Mehrheit auf, genetisch und kulturell.
Man kann davon ausgehen, dass dieses Bestreben im menschlichen Verhalten genetisch verankert ist, da Gruppierungen, welche ein solches Verhalten an den Tag legten, klare evolutionäre Vorteile hatten. Wäre es nicht so, würde es die beschriebenen Phänomene einfach gar nicht geben.
Wären die Mitglieder der Minderheit liberaler als die Mitglieder der Mehrheit, würden sie sich in der Mehrheit auflösen. Je liberaler und toleranter ein Individuum oder eine Gruppierung, desto geringer die Reproduktionsraten. In diesem Fall hätte die Minderheit geringere Reproduktionsraten als die Mehrheit. Schon allein deshalb könnte in diesem Fall kein Verdrängungsprozess eingeleitet werden.
Damit das trotzdem geschieht, muss eine Minderheiten-Gruppierung in sich möglichst geschlossen bleiben. Nur so kann eine genetische Verdrängung stattfinden.
Das heißt, dass vordergründig kultureller, vor allem aber genetischer Einfluss von der Mehrheit auf die Minderheit streng überwacht und reglementiert werden muss. Es ist daher viel leichter für ein Mitglied einer Minderheit, ein Mitglied der Mehrheit zu werden als umgekehrt. Dies klingt zunächst paradox. Müsste die Minderheit nicht froh über jeden Neuzugang sein und die Aufnahmebedingungen entsprechend einfach?
Aus rein logischen Gesichtspunkten müsste man diese Frage mit „Ja“ beantworten. Bei Verdrängungsprozessen ist es aber für die Minderheit besonders wichtig, jeglichen Aufweichungserscheinungen entgegenzutreten. Es werden daher an erwachsene, übertrittswillige Mitglieder der Mehrheit weit höhere Ansprüche seitens der Minderheit gestellt, als an Mitglieder der Minderheit selbst. Der kulturelle und genetische äußere Einfluss muss streng überwacht werden.
Damit Neumitglieder in einer Minderheitengesellschaft akzeptiert werden, müssen sie sozusagen „päpstlicher als der Papst“ sein. Ein Übertritt von der Minderheit zur Mehrheit ist viel einfacher und in breiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert und erwünscht. Es ist sogar so, dass die Mehrheitsgesellschaft fest daran glaubt, dass sie „das Maß aller Dinge“ ist und je länger Mitglieder einer Minderheit bei ihnen leben, desto mehr werden sie dazu übergehen, Teil der Mehrheit zu werden. Dies ist natürlich ein Irrglaube, dem sich jeder der Mehrheitsgesellschaft hingibt – auch die, die später von ihren eigenen Minderheiten verdrängt werden.
Denn genau dies nicht zu tun, ist die elementarste Voraussetzung für Verdrängung. Die Minderheit kann nur dann Verdrängungsprozesse einleiten, wenn sie zunächst selbst äußerliche Verdrängungsprozesse abwehrt. Solange eine Minderheit sich einer Angleichung widersetzt, gewinnt sie – solange eine Mehrheit es nicht schafft, die Minderheit zu integrieren, verliert sie.
Minderheitenspezifische Insignien
Es ist, um Verdrängungsprozesse einzuleiten und aufrecht zu erhalten, notwendig, dass die Mitglieder einer Minderheit in Kleidung, Verhalten, Sprache, religiöser Ausrichtung oder beispielsweise Ernährung von den Mitgliedern der Mehrheit unterscheidbar sind.
Je mehr und je stärker diese Unterschiede sind, umso besser ist es für den Verdrängungsprozess.
Besonders starke Wirkung haben natürlich minderheitsspezifische Insignien, die den oder die Träger/in sofort als Minderheitenmitglied erkennbar werden lassen. Solche minderheitsspezifischen Insignien sind praktisch Selbstläufer: Wenn sie sich einmal etabliert haben, verstärken sie ihre Wirkung mit jedem Mitglied, dass sich ihrer bedient. Das heißt, dass auf den Mitgliedern der Minderheit ein enormer Gruppenzwang lastet, auch diese Insignien tragen zu müssen. Tun sie dies nicht, ist eine soziale Ächtung (geringeren oder stärkeren) Ausmaßes innerhalb der Minderheiten-Gruppierung absolut sicher.
Andererseits zeigt es aber auch den Mitgliedern der Mehrheit, dass es keine Bereitschaft gibt, sich ihnen anzupassen, sondern dass man als Gruppierung geschlossen bleiben möchte und dass ein Verdrängungsprozess in Gang gekommen ist. Beispielsweise könnten sich Männer im Vorfeld der iranisch-islamischen Revolution 1979 nur durch das Tragen eines Bartes als Mitglied einer Minderheit und Sympathisant Ajatollah Chomeini erkennbar gemacht haben. Was dazu führte, dass auch Männer, die ihren Bart völlig unvoreingenommen trugen, diesen abnahmen, weil dies als minderheitsspezifisches Merkmal gedeutet werden konnte.
Minderheitsspezifische Insignien sind besonders perfide: Sie werden in der Regel von radikaleren Mitgliedern einer Minderheitengruppierung eingeführt. Einmal etabliert müssen sie aber von liberaleren Mitliedern früher oder später angenommen werden. Dies führt natürlich zur gewünschten Abgrenzung der Gruppierung. Diese Abgrenzung und die damit verbundenen minderheitsspezifischen Insignien stoßen verständlicherweise bei den Mitgliedern der Mehrheit auf wenig Gegenliebe.
Ebenso wie bei den liberaleren Mitgliedern der Minderheit, welche das Tragen von minderheitsspezifischen Insignien vielleicht persönlich gar nicht wollen, stehen auch diese diesem Phänomen praktisch machtlos gegenüber. Gehen sie dagegen vor, so ist dies für die Radikalen der Minderheiten höchst willkommen, da dies zeigt, wie sehr die Minderheit von der Mehrheit unterdrückt wird.
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