„Warum?“ Sie wusste, dass er das fragen würde. Sie selbst hatte es sich schließlich auch schon gefragt. „Das habe ich auch noch nicht wirklich verstanden. Möglicherweise zu viele verschiedene Ansichten, wie mit diesem Problem umgegangen werden sollte.“
„Hat Ihre Schule bestimmte Anforderungen an die jungen Erwachsenen?“
„Ja ziemlich Strenge sogar, also meiner Meinung nach: Keinerlei Vorstrafen, nicht einmal ein Strafzettel wegen zu schnellem Fahren, einen klaren Schulabschluss, einen festen Wohnsitz, Angehörige, was bedeutet, dass man nicht vollkommen allein ist und man muss ebenfalls noch einen kleinen, nenne ich ihn mal ‚Einstellungstest’, bestehen.“
„Klingt sicher.“ Sein Hinterton war nicht zu überhören. „Und bei Mia-Sophie gab es dabei keine Probleme?“
„Sonst hätte sie niemals die Zulassung bekommen.“ Plötzlich kroch Ruby ein strenger, verbrannter Geruch in die Nase. Sofort kam es ihr in den Sinn woher. Ihr Essen! Ohne weiter auf den Kommissar zu achten, sprang sie von ihrem Stuhl auf und hastete in die Küche. Er hörte sie nur husten, aufgrund des scharfen Geruches, als er ihr in die Küche folgte und sie mit der Hand herumfächeln sah. Ruby fluchte ununterbrochen, ob er nun dastand oder nicht, sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch. Am Ende landete das vertrocknete, verkohlte Fladenbrot mit pfefferndem Wurf im Mülleimer.
„Ich hasse mein Leben!“ Motzte sie und setzte sich wie ein schmollendes Kind auf die Küchentheke. Zum Glück kam ihr in diesem Moment keiner mit den Worten: ‚Und du hast dein Leben auf der Reihe?’.
„Spanierin, hm?“ Sie nickte einzig und allein. „Halbspanierin, oder volles, temperamentvolles, spanisches Blut?“ Infolge ihres Schmollens – nennen wir es besser Selbstmitleid – bemerkte sie seinen wiederholten Umschwung nicht.
„Halbspanierin. Meine Mutter hatte damals einen Deutschen geheiratet, obwohl sie sehr fromm in solchen Sachen ist. Meine Eltern haben sich in Spanien kennengelernt und haben auch dort geheiratet und sind dann zusammen nach Deutschland gezogen. Es war die wahre Liebe.“
„Ach, dennoch dieses aufbrausende Naturell.“ Der Kommissar beobachtete sie mit wachen Augen, als sie, immer noch auf der Theke sitzend, mit geschmeidigen Bewegungen aus einem der Schränke eine Schachtel Kekse herausfischte. „Auch welche?“ Bot sie ihn mit vollem Mund an. Er verneinte dankend, verweisend auf seine Fitness, worauf sie nur die Schultern zuckte.
Nach einer kurzen Pause erkundigte er sich weiter über das Projekt. „Gab es eine bestimmte Anzahl an Teilnehmern die am Anfang des Projekts zugelassen waren?“ Auch wenn es ihr komisch vorkam, als ob er sich erst sammeln musste, um diese Frage zu stellen, antwortete sie ihm bereitwillig. „Erst mal nur fünfzehn, um in der Probezeit nicht zu übertreiben.“
„Wie viele hatten sich den beworben, wissen Sie das zufälligerweise?“ Durchgehend machte er sich Notizen auf einem Block; seine Schrift jedoch konnte sie auf Kopf nicht entziffern. Schon von Kindesalter an war sie chronisch neugierig und sie wusste auch von da an, wie sie mit gewissen Taktiken an die gewünschten Informationen kam.
„Mehr als dreißig, wenn ich mich nicht irre.“
„M-hm.“ Meinte der Kommissar nur knapp, um ihr danach einen tadelnden Blick zuzuwerfen, weil sie ständig auf sein Geschriebenes linste. Sie lächelte unschuldig.
„Was haben Sie als ‚Young Adult’ zu tun?“
„Alles.“
„Genauer.“ Einmal wollte sie Strenge in seiner Stimme hören. Innerlich lächelte sie, äußerlich zuckte keiner ihrer Muskeln.
„Das Problem der Kinder ist, dass sie Eltern haben, die sich nicht um sie kümmern. Das zweite Problem ist, dass diese Eltern nicht diese gewisse Grenze überschreiten um sie deswegen zur Rechenschaft zu ziehen. Da kommen die ‚Young Adults’ ins Spiel. Während die Justiz…“ Sie machte eine bildhafte Pause zum Atmen. „…völlig versagt, versuchen wir den Kindern zu helfen und ihnen eine sichere Zukunft zu sichern.“
„Sehr edel.“ Das verärgerte sie. „Es ist eine gute Sache. Außerdem erfordert es viel Kraft von den Verantwortlichen.“
„Ihr Schützling ist Lauren Winkler, richtig?“ Wechselte er das Thema offensichtlich.
„Ja genau.“
„Kannten sich Lauren und Charlotte von Langen, der Schützling von Mia-Sophie?“
„Sicherlich, jeder, der in das Projekt integriert ist, kennt auch die anderen. Wie eine Familie.“
„Wie eine Familie…“ Wiederholte er und änderte wieder das Thema. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Mia-Sophie einige Tage verschwunden war, so in der Familie?“ Seine Andeutungen erfreuten sie nicht wirklich, das wusste er. Aber sie war auch gefasst genug um zu wissen, dass er das extra machte. „Was meinen Sie?“
„Das Verschwinden von Frau Seidel hat ein Ende. Sie ist aufgetaucht. Heute Morgen. Sie ist tot, Frau Cavillo. Ermordet.“ Der Keks der gerade zu ihrem Mund wandern wollte, hielt inne. Ihren Mund, den sie bereits geöffnet hatte, blieb noch kurz offen, dann schloss sie ihn um mit pochendem Herzen. Sie war völlig perplex.
„Es tut mir sehr leid um Ihre Freundin.“
„Ja…ja.“ Stammelte sie. „Aber das kann doch nicht sein.“ Unwillkürlich fasste sie sich an ihren Hals, erst dann versuchte sie sich wieder auf den Kommissar vor ihr zu konzentrieren. Nochmals fragte er nach, ob sie sich erinnern konnte, ob ihr das Fehlen von Mia-Sophie in der Gruppe aufgefallen war. Sie versuchte die letzten Tage irgendwie Revue passieren zu lassen und tatsächlich da war nie eine Erinnerung an Mia-Sophies Anwesenheit.
„Sie…Sie haben Recht, ich habe sie bestimmt schon einige Tage nicht mehr gesehen.“ Ruby konnte es kaum fassen, dass es augenscheinlich niemanden aufgefallen war. Und nun das!
„Können Sie sich erklären woran das gelegen haben kann?“ Unbeholfen rutschte sie von der Küchentheke herunter und bemühte sich mit zittrigen Händen die Keksdose zurückzustellen.
„Ich…ich kann es mir nur so erklären, dass es niemandem aufgefallen war, weil es nicht verpflichtend ist sich zu melden. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man länger von einem Mitglied nichts hört.“
„Wissen Sie ob sie Feinde hatte?“
„Ich kannte sie nicht so gut. Ich würde unsere Beziehung wie die von Kollegen bezeichnen.“
Dazu sagte er nichts. „Kam sie Ihnen irgendwann anders vor. Verschreckt, ängstlich?“
„Es ist schon länger her, aber nein. Bei den Besprechungen war sie wie immer.“
Er machte sich ein letztes Mal Notizen, dann erhob er sich abrupt. „Danke vorerst…“ meinte er im Gehen, „…wenn ich noch Fragen an Sie habe, werde ich mich melden. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, rufen Sie mich an.“ Sie ging immer noch sehr wackelig auf den Beinen hinter ihm her und nahm seine Karte. Irgendwie kam ihr sein Abschied sehr abgehackt vor, aber ihre Gedanken waren gerade viel zu durcheinander, um über so etwas nachzudenken.
Mia-Sophie war ermordet worden.
Doch so einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen, vorher wollte sie noch versuchen ein bisschen aus ihm rauszubekommen.
„Warum hat der Vorstand der Gemeinschaft nichts erfahren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie niemand vermisst gemeldet hat.“
„Wer sagt denn, dass das nicht getan wurde?“
„Wie? Das hätten wir doch erfahren.“
„Wenn Sie mit ‚Wir’ die Mitglieder des Projekts meinen, würde ich anfangen mich zu fragen wie seriös diese kleine Selbsthilfegruppe wirklich ist.“ Sie runzelte die Stirn.
„Mia-Sophies Tod war kein normales Verbrechen, habe ich Recht oder habe ich Recht?“
„Das sollten Sie uns überlassen.“
„Weichen Sie mir nicht aus.“
„Passen Sie auf sich auf, Frau Cavillo.“ Entgegnete er mit einem Tonfall der sie in ihrem derzeitigen Hochmut gar nicht erfreute. „Das werde ich!“ Rief sie ihm nach, als er gerade an seinem Wagen ankam.
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