»Und alle Vampire besitzen solche Fähigkeiten?«, wollte er wissen. Dabei wirkte er keinesfalls unsicher, eher neugierig.
»Nicht jeder. Ich habe andere Dunkle Gaben. Es kommt letztendlich darauf an, welche Gabe der Schöpfer des Vampirs seinem Geschöpf bei der Wandlung zukommen lässt. Alte Vampire, solche, die über eine große Macht verfügen, können ihre Geschöpfe mit verschiedenen Gaben ausstatten. Wird allerdings ein Mensch von einem noch nicht so alten, und damit weniger mächtigen Vampir gewandelt, erhält er nahezu die gleiche Dunkle Gabe wie sein Schöpfer«, erklärte ich.
Der blonde Special Agent ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen und sah sich um. Da wir uns allein im abgeschirmten Raum befanden (die Smartphones mussten wir abschalten), warf er seine Zurückhaltung ab. »Und was ist deine Dunkle Gabe, Ragnor?«, fragte Stu, der viel weniger wie ein Agent, sondern eher wie ein recht harmloser Buchhalter aussah.
»Es sind zwei. Telekinese und Pyrokinese«, erklärte ich.
»Diese Telekinese...ist was genau?«, fragte er interessiert.
»Das ist die Gabe, den Geist über die Materie triumphieren zu lassen«, war meine Antwort.
»Wie das denn?«, fragte er verständnislos.
…Okay, da hatte ich die Beschreibung wohl ein wenig zu blumig aufpoliert...
»Mann! Sag bloß nicht, ich soll sie dir wie ein Zirkusäffchen vorführen? Nicht dein Ernst, oder?«
»Wann bekommt man denn schon mal die Gelegenheit, solch eine außergewöhnliche, der Physik widersprechenden Sache zu sehen?«, meinte Dent. »Die Regierung betreibt auf diesem Feld schon seit vielen Jahren ihre Forschungen. Leider erfolglos. Ich weiß ja nicht, ob du vom Projekt Ziege hörtest?«
»Du meinst doch nicht etwa diese absurde Geschichte, die verfilmt wurde? Sollten die Soldaten nicht versuchen, mittels Geisteskräfte Gegenstände, bzw. Lebewesen zu beeinflussen?«, fragte ich jetzt wiederum leicht ungläubig.
»Natürlich sind diese Forschungen in etwa so abgelaufen. Stell dir mal vor, du könntest mittels Gedankenkraft deine Feinde nass regnen lassen, oder gar töten.«
»Dann müsste der Soldat ein Vampir sein, ansonsten funktioniert so etwas nicht«, winkte ich ab.
»Es verstößt gegen das Völkerrecht, Vampire in den Militärdienst aufzunehmen, falls du es noch nicht weißt. Man befürchtet, sie könnten als Supersoldaten missbraucht werden. Vor allem zeigt sich der Vampir-Ältestenrat um die Anonymität der Vampir-Rasse besorgt. Falls die Öffentlichkeit erfährt, dass es Vampire wirklich gibt, kann niemand mehr für die Sicherheit des anderen garantieren. Es wird immer raubeinige Helden geben, die glauben, sie seien zur Vampir-Jagd prädestiniert. Du weißt, dass jeder Amerikaner das Recht auf eine Schusswaffe besitzt? Dabei weiß niemand, welchen Gegner er vor sich hat. Nun, ich hege keine Vorurteile, aber soweit ich weiß, sind Vampire für Menschen nicht zu unterschätzende Gegner. Darum wird nach wie vor dieses Wissen unter Verschluss gehalten.«
»Das wird auf jeden Fall besser sein«, nickte ich. »Glaub mir, ich weiß, wie fatal so etwas enden kann. Viele Menschen halten uns entweder für hirnlose, blutrünstige Wesen, oder schmachtende Glitzertypen, wobei die Filmindustrie nicht gerade unschuldig an diesem Image ist, da sie Haarsträubendes zustande bringt. Gut, dass du keine Vorurteile hegst. Immerhin bin ich noch nicht über dich hergefallen. Also gut, dann mal her mit deinem Kugelschreiber!«
Dent gab einen Ton der Überraschung von sich, als sein Kugelschreiber wie magnetisch in meine Finger sauste. »Wow! Ich bin wirklich tief beeindruckt. Diese Fähigkeit erspart dir sicherlich viel Gelaufe. Unglaublich. Und das sage ich, der schon sehr viel gesehen hat!«
»Du hast ja gar keine Ahnung!«, winkte ich ab.
CWO Isla Nowak kam herein und hörte wohl den ein oder anderen Wortfetzen, verdrehte die Augen und sagte: »Kerle! Seid ihr jetzt fertig mit dem Pimmelfechten?«
»Dent winkte ab: »Mach mal halblang. Ragnor und ich haben uns ganz normal unterhalten. Hast du etwas Erhellendes bei der Befragung der Kameraden herausgefunden, Isla?«
»Ragnor? Das klingt wirklich sehr nordisch«, bemerkte sie beiläufig, nahm ihren Notizblock und las daraus vor. »Laut Aussage, waren beide Soldaten hochdekorierte Veteranen, die hier eigentlich nur eine ruhige Kugel schieben wollten. Einer von ihnen, Sergeant Steven Roberts, war Familienvater und hinterlässt seine Frau und zwei Kinder. Der andere, Sergeant William Forbes, ist geschieden. Nichts Auffälliges, keinerlei Schulden. Den befragten Kameraden fiel nichts Außergewöhnliches auf. Sie meinten, beide hätten sich völlig normal gegeben. Vorläufig müssen wir davon ausgehen, dass sie nicht an dieser Aktion beteiligt waren«, klappte Isla Nowak den Notizblock zu.
»Sieht so aus, als würden wir wieder mal auf der Stelle treten«, sagte Stu. »Gut, wir sind hier fertig, und sollten nun in die Pathologie fahren«, schlug er vor.
Selbst als Untoter, fühle ich mich in der Pathologie unwohl. Dieses grelle Licht, die Schilder an den kalten Füßen der Toten, der blanke Stahl, die niedrige Raumtemperatur. All das wirkt ziemlich deprimierend. Zudem war mein letztes Erlebnis in der Pathologie alles andere als erhebend. Damals musste ich den toten Körper meiner Frau Amanda identifizieren. Solcherlei Erfahrung wünsche ich niemanden.
Zusätzlich fragte ich mich, weshalb die meisten Pathologen von der Art her eher dazu neigten, Frohnaturen zu sein. Möglicherweise retten sich Menschen durch schwarzen Humor vor dem Wahnsinn. Der Typ, der uns zu den Leichen der toten Soldaten brachte, sagte Folgendes zur Begrüßung: »Dr. James Ingram. Meine Herrschaften, zuerst heiße ich euch willkommen im Hause der Verschiedenen. Klingt seltsam, nicht wahr? Denn alle die hier liegen, sind nicht verschieden, sondern gleichermaßen tot! Ha, ha, ha!«
Wir drei sahen den Pathologen ohne jede Regung an.
»Äh... ja, folgt mir bitte«, sprach´s und führte uns durch einen Gang. Wir betraten einen Kühlraum. Dort öffnete er zwei Schubfachtüren und zog die beiden toten Körper heraus. »Hier sind die beiden«, merkte er an. »Links Steven Roberts, rechts Billy Forbes. Beide, bis auf die zerfetzten Kehlen, gut in Form. Muss Kannibalismus gewesen sein. Hierbei handelt es sich eindeutig um menschliche Bisse. Wahrscheinlich trugen die Täter Prothesen mit Reißzähnen. Niemand kann mir erzählen, es gäbe Vampire! Ha, ha, ha!« lachte die Frohnatur.
Interessiert musterte ich die Halswunden. Roberts und Forbes waren nicht durch normale Vampirbisse getötet worden. Stattdessen waren ihre Kehlen aggressiv zerfetzt, wie nach einem wilden Tierangriff. Roberts´ Kehlkopf lag sogar herausgerissen neben ihm. Dies zeugte für einen reinen, brutalen Tötungsakt. Beide Männer starben am starken Blutverlust.
Stu wurde eine Spur käsiger um die Nase, was meinen Verdacht erhärtete, er arbeite noch nicht allzu lange im Außendienst. Offenbar erblickte er bisher nicht viele Tote in natura. Wer weiß, an welchem Schreibtisch in Washington er jetzt fehlte. »Irgendwelche Spuren am Körper, oder Fingernägeln? Faser-Anhaftungen an der Kleidung?«, fragte er mit belegter Stimme, woraufhin er sich heftig räusperte.
»Keine fremde, menschliche Haut unter den Fingernägeln, wenn du das meinst. Allerdings habe ich bei Forbes eine interessante Entdeckung gemacht, als ich seine Kleidung untersuchte. Ich fand ein menschliches Haar«, berichtete Dr. Ingram.
»Ja, und? Was ist daran so besonders?«, fragte ich.
Der Pathologe grinste: »Eine gute Frage. Laut Massenspektrometrie ist dieses Haar über dreihundert Jahre alt. Na, wenn das nichts Besonderes ist, fresse ich einen Besen!«
*
Der Kern der Überraschung ist die Absicherung der Schnelligkeit mit Geheimhaltung.
(Carl Philipp Gottfried von Clausewitz)
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