Harry gilt nicht gerade als ein überbordend emotionaler Mensch. Wie es in seinem Inneren aussieht, weiß nur er allein. Nichtsdestotrotz ist Harry bei allen beliebt, da er eine große Gefasstheit ausstrahlt und sich auch nicht davor scheut, Verantwortung zu übernehmen. Nun ja, das liegt wahrscheinlich daran, dass er einst ein Pharao war.
... Zu Harry kamen wir, wie die Jungfrau zum Kinde. Die Geschichte passierte in Florenz, genauer gesagt, nachts im Archäologischen Museum. Dabei ließ ich Agnir und seinen Kumpel Ructus nur wenige Minuten aus den Augen. Derweil kam Ructus, das kleine rote Teufelchen, auf die Idee ein paar Verse aus einem Ägyptischen Totenbuch zu rezitieren, und das ausgerechnet in Gegenwart einer Mumie. Diese erwachte, verlangte nach Wasser, regenerierte sich wieder zu einem Menschen, und so kamen wir zu Haremhab, alias Harry. Natürlich hielt ich den Kindern eine Predigt darüber, dass wir jetzt für das Geschehene verantwortlich seien. Deshalb nahmen wir Haremhab mit, was am nächsten Tag im Museum für wahren Trubel sorgte, da sie vermuteten, jemand habe die Mumie gestohlen. Wenig später, wir befanden uns wieder zuhause, lernten sich Harry und Jule kennen. Offenbar war es Liebe auf den ersten Blick. Selbstverständlich zeigte ich mich darüber wenig erbaut, da Harry für Jule doch ein wenig zu alt schien. Aber letzten Endes wollte ich ihrem Glück nicht im Wege stehen. Tja, wo die Liebe eben hinfällt. Wichtig ist mir einzig und allein, dass er Jule ein guter und treusorgender Ehemann ist...
Auf die Frage hin, nickte ich: »Ja, ich habe eben erst von Cornelius Bescheid bekommen. Versicherung? Hast wohl einen Clown gefrühstückt, wie? Ich versichere, dir für diese Aussage nicht allzu sehr weh zu tun, Harry«, verdrehte ich die Augen. Dann wandte ich mich meiner Tochter zu: »Und, Krümel? Wie fühlst du dich?«, küsste ich ihr die Wange.
»Wie ein gestrandeter Wal«, winkte sie ab. »Wir kommen gerade vom Ultraschall. Für mich ist es der TÜV, weil ich mich jedes Mal fühle, als bräuchte ich eine Hebebühne. Mit den Kleinen ist alles in bester Ordnung. Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet, bei diesem Radau in meinem Bauch. Sie missbrauchen ständig meine Blase als Hüpfburg. Ich befürchte, die Zwillinge werden sich, wenn sie erst mal das Licht der Welt erblickt haben, draußen genauso weiter streiten, wie in meinem Inneren. Das kann ja heiter werden!«
»Na, so schlimm wie mit deinen älteren Zwillingsbrüdern kann es wohl nicht werden. Die waren die reinste Plage! Immerhin bekommt ihr Junge und Mädchen«, wiegelte ich ab.
»Stimmt, die Klügere gibt nach, heißt es«, grinste Jule. »Nimm´s mir nicht übel, Papa. Ich muss mich ein wenig hinsetzen. Diese elende Schlepperei ist pure Schwerstarbeit. Gute Reise!«, wünschte sie.
Um Jules Wohl besorgt, stützte Harry seine Gemahlin ein wenig. »Ragnor, komm heile wieder. Ich bringe Jule jetzt mal rein. Der Tag war anstrengend für uns alle. Gute Reise, und Hals und Beinbruch«, nickte er aufmunternd.
»Danke, macht´s gut«, nickte ich zurück und betrat mit meinem Gepäck den Lift.
Unten angekommen, warf ich noch einen kurzen Blick in die Garage. Agnir unterhielt sich angeregt mit einer mir unbekannten Zwergin über Vergaser-Probleme - und wie sollte es anders sein - natürlich über Tuning.
»Hör mal, Stöpsel«, sagte ich zu meinem Sohn, »mach keinen Unsinn! Vor allem fahr mit deiner Hausfrauenschüssel nicht schneller als erlaubt. Wenn du brav bist, spendiere ich dir eine Vergaser-Innenbeleuchtung.«
»Keine Bange, ich bleibe am Limit. Immerhin will ich meinen Lappen behalten«, winkte er mit schmierigen Händen ab.
»Noch ein letztes Wort: Wenn du bei den Mädchen landen willst, solltest du deine Hände ordentlich waschen! Das da - ist einfach nur widerlich!«, kommentierte ich den Zustand seiner Hände und Fingernägel.
»Ja, werde ich tun. Gute Reise«, tauchte er wieder mit seinem Kopf in den Motorraum ab.
Zuerst sah die Zwergin auf ihr Tablet, dann zu mir auf. »Da gebe ich dir ausnahmslos recht. Ungepflegte Hände sind ein echtes No-Go. Du bist also Ragnor?« Sie verglich das aufgerufene Foto mit meinem liebreizenden Antlitz.
»Ja, wieso? Vor allem, wer will das wissen?«, fragte ich und nahm die kleine Person genauer in Augenschein, wobei mir auffiel, dass es sich bei ihr ebenfalls um einen Vampir handelte.
»Solana Hanna Lobkowitz ist meine Name«, neigte sie leicht den Kopf zum Gruß. »Ich wurde vom Vampir-Rat beauftragt, dich abzuholen«, erwiderte die Zwergin.«
»Wie abholen?…«, sah ich mich suchend um. »Vor allem, womit? Hast du eine Rikscha dabei, oder willst du mich auf dem Rücken tragen, kleine Hanna Montana?«
»Mein Name ist Solana Hanna, klar?«, knurrte das kleine, dunkelhaarige Fräulein. »Nein, keines von beidem. Folge mir bitte!«, forderte sie mich mit saurer Miene auf.
»Das wird ja wohl nicht allzu schwierig sein, immerhin kannst du mit deinen kurzen Beinen unmöglich vor mir weglaufen!«, bemerkte ich keck. »Niedere Vampire stellte ich mir bisher stets ein wenig anders vor.«
»Gepäck!«, schnauzte sie. »Den Diplomatenkoffer kannst du gerne selbst tragen. Den Anzug natürlich ebenso, sonst schleift er auf dem Boden herum«, knurrte Solana.
»Warum sollte ich dir mein Gepäck geben?«, hakte ich nach.
»Um es gegebenenfalls zu verstauen? Dann eben nicht! Du riskierst eine ganz schön dicke Lippe!«
Wieder einmal hatte ich das Gefühl, soeben den Beginn einer wundervollen Freundschaft erlebt zu haben. Um die kleine Person nicht weiter zu reizen, gab ich Ruhe und folgte ihr.
Zwerge sollte man ohnehin nicht allzu sehr ärgern, weil sie einem ansonsten gerne gegen´s Schienbein treten. Oder noch schlimmer: Das Bein mit einer Axt amputieren.
Wir verließen mein Grundstück und erreichten unweit einen asphaltierten Parkplatz.
»Scheiß die Wand an!…Bei Odin!... Bist du eine von den X-Men?«, fragte ich, als ich des seltsamen Fortbewegungsmittels ansichtig wurde. Dieses silberne Ding war kein gewöhnliches Flugzeug, oder ein Jet, sondern wohl eher ein Raumgleiter.
»Nein, bin ich nicht. Und wenn, wäre ich eine der X-Women, oder etwa nicht?«, kommentierte sie trocken.
»Wow! Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Vampir-Rat solche Mittel besitzt. Das Ding muss ein Vermögen gekostet haben!«
»Da stimme ich dir zu: Du hast überhaupt keine Ahnung! Was denkst du wohl, wie viel Geld man als Vampir im Laufe von Jahrhunderten anspart? Außerdem bekam der Rat von einem guten Freund einen gehörigen Rabatt für diesen Flieger. Weißt schon: Eine Hand wäscht die andere. Und jetzt mach den Mund zu und gib mir dein Gepäck!«, sagte die Vampir-Zwergin.
Meinen Aktenkoffer, den Anzug, als auch den Rucksack, behielt ich als Bordgepäck bei mir; den Koffer und die Reisetasche schob ich der kleinen Madame zu. »Und du fliegst das Ding ganz allein?«, fragte ich misstrauisch.
»Nein, selbstredend nicht. Sollte dem Piloten etwas passieren, was gedenkst du dann zu unternehmen, hä? In der Luftfahrt gibt es grundsätzlich stets einen Co-Piloten.«
»Wenn du schon die Pilotin bist, bin ich gespannt, wer der Co-Pilot ist. Eine Zyklopin mit Glasauge?«, meinte ich amüsiert.
Solana Hanna hustete, dabei meinte ich das Wort »Chauvinist«, vernommen zu haben. »Steig jetzt ein! Zeit ist Geld. In diesem Fall passenderweise wohl eher Gold! Wenn du mir weiterhin eine Sprechblase ins Ohr drückst, werde ich dich über dem Zielort ohne Fallschirm von Bord werfen!«
»Markige Worte«, konterte ich und betrat den Flieger.
»Hey, wohin willst du?«, fragte Solana aufgebracht, als ich schnurstracks zum Cockpit marschierte.
»Meinst du etwa, ich kaufe die Katze im Sack? Zuerst will ich einen Blick auf deinen Co-Piloten werfen!«
»Wenn´s denn sein muss!«, schnaubte die Zwergin entnervt.
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