»Ich mag sie sehr, denn sie ist eine ehrliche Haut, und sie liebt dich. Wenn dich jemand über deinen Verlust hinwegtrösten kann, dann ist es Molly. Versprich mir, nicht aufzuhören, sie zu suchen. Es klingt seltsam, aber auch ich denke, sie ist in Gefahr. Noch immer besitzt sie diesen Götterfunken, das macht sie für finstere Mächte umso attraktiver«, warnte Amanda.
»In der Tat. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, dass dies ein Grund für ihr Verschwinden sein könnte...«
Zwei Raben krächzten, ein dunkler Schlagschatten fiel auf uns.
»Na sieh mal einer an! Hier sitzen sie, die süßen Turteltäubchen!«
Sofort ließ ich von Amanda ab und beugte das Knie: »Gegrüßt seist du, Göttervater Odin!«
»Ach, lassen wir das Zeremoniell! Ich bin gekommen, um dich zurückzubringen, Ragnor. Nehmt Abschied!«, brummte Allvater Odin, den seine beiden Wölfe Geri und Freki flankierten.
Freki, der einst bei einem Abenteuer mein treuer Begleiter gewesen war, kam sofort zu mir und verlangte ein paar Streicheleinheiten, die ich ihm nicht verwehren konnte.
»Wie gefällt es dir hier, Amanda?«, fiel Odins einäugiger Blick auf meine Gattin. Nebenbei bemerkt, war es diese Sorte optischer Abtastung, die man durchaus als lüstern bezeichnen konnte, und mir deshalb nicht sonderlich behagte.
»Hm, du bist also Odin?«, fragte Amanda. »Dann habe ich dir zu verdanken, dass ich mich in der Gesellschaft dieser zänkischen Zicken befinde?«, setzte sie ihn unschön auf den Pott.
»Das klingt nicht gerade begeistert. Gefiel dir dein Zustand denn vorher besser?«, fragte er ungewohnt feinfühlig.
Ratatöskr, das Eichhörnchen, das den Weltenbaum bewohnt, kam den Stamm heruntergeklettert und hockte sich auf Odins Schulter. Gedankenversunken kraulte der Göttervater ihm den weichen Pelz.
»Nein, nicht unbedingt«, antwortete Amanda aufrichtig. »Trotzdem möchte ich hier ebenso wenig bleiben. Es ist zwar ganz schön, dennoch langweilig.«
»Hm, was könnte ich stattdessen für dich tun, Amanda? Nur lass dir eines sagen: Ich kann dich nicht mehr zu den Lebenden zurückbringen. Dies liegt nicht in meiner Macht. Du glaubtest nicht an meine Existenz, betetest nie zu mir. Lediglich die Wissenschaft ersetzte dir den Glauben, und für Wissenschaftler gibt es weder Elysium, Himmel, noch Walhalla«, wiegelte der Einäugige ab. Zwei Hirsche gesellten sich zu ihm.
Möglicherweise wusste ich eine Lösung: »Wie wäre es, wenn du Amanda nach Asgard bringst? Dort könnte sie an der Tafel meiner Ahnen Platz nehmen. Meine Familie wäre begeistert, Amanda kennenzulernen. Numa und Skryrmir würden sie wirklich mögen.«
Odin betrachtete Amanda kritisch. »Wäre dies dein persönlicher Wunsch, oder eher der von Ragnor?«
»Das weiß ich noch nicht, wenn ich ehrlich bin. Zuvor habe ich mich nie konkret mit der Nordischen Sage beschäftigt. Es fehlte mir einfach die Zeit dazu. Gibt es dort Freigang?«, fragte sie skeptisch. »Nimm es mir nicht übel, aber ich muss ab und zu ein Auge auf meine Liebsten werfen.«
»Kannst du reiten, mit dem Schwert kämpfen, oder Bogenschießen?«, fragte Odin amüsiert. Inzwischen saß ein große Adler auf seiner anderen Schulter. Wenn es so weiter ging, würden wir Odin bald vor lauter Viehzeug nicht mehr sehen.
»Natürlich kann ich reiten. Taekwondo beherrsche ich ebenfalls, sowie Kendo«, behauptete Amanda. »Was das Bogenschießen betrifft, das könnte ich lernen. Kein Problem!«
… Dabei muss ich sagen, dass ich Amanda noch nie auf dem Rücken eines Pferdes gesehen hatte, wusste jedoch dass sie eine hervorragende Kendo-Kämpferin war, da wir gelegentlich miteinander trainiert hatten...
Odin nickte: »Sehr schön, denn einmal im Jahr gibt es bei uns die Wilde Jagd, ansonsten könnte ich dir einen Ausbildungsplatz als Walküre anbieten.«
Ungeduldig mischte ich mich ins Gespräch: »Das klingt doch prächtig! Was gibt es da zu feilschen?«
»Klappe halten!«, fauchte Odin. »Ich rede mit Amanda, du vorlauter Bengel! Also Amanda, die Entscheidung liegt bei dir.«
»Asgard klingt gut, ich stimme zu. Zumindest verspricht das eine bessere Beschäftigung, als hier herumzusitzen und Löcher in den Himmel zu starren«, beschied sie.
»Sehr schön, sobald ich Ragnor an seinen Bestimmungsort gebracht habe, komme ich zurück und hole dich ab«, nickte er. »Nun denn, nehmt Abschied! Und solange ihr damit beschäftigt seid, rede ich mit den drei Grazien, dort drüben. Vielleicht nehme ich auch ein Bad mit ihnen. Dann könnte es allerdings ein wenig länger dauern. Sie sind schrecklich eifersüchtig aufeinander. Das macht aber nichts, Gottvater Odin hat für alle genug übrig, wenn ihr versteht, was ich meine!«, ließ er in schneller Folge seine Augenbrauen auf und ab schnicken, was ihn ein wenig wie Groucho Marx aussehen ließ.
Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, war er schon fort. Weiter vorn ertönte ein Klatschen, ganz so, als hätte jemand einem prallen Frauenpo einen Klaps verpasst. Daraufhin ein kokettes Quieken und Lachen.
Belustigt warf Amanda mir einen Blick zu. »Ich schätze mal, er ist mit Vorsicht zu genießen, nicht wahr? Männer mit Macht glauben stets, alle Frauen lägen ihnen bereitwillig zu Füßen.«
»Hüte dich vor seinen Avancen. Wie er dich vorhin ansah! Wenn er nicht mein Gott wäre, hätte ich ihm allein schon dafür die Fresse poliert!«, knirschte ich grimmig.
»Lass dir von ihm nicht die gute Laune verhageln. Lass uns einfach noch ein wenig zusammensitzen und die Aussicht genießen«, schlug sie vor und legte ihre Hand in meine. »Ich liebe dich. Ach ja, ich mag euren neuen Hund«, sagte sie leise.
»Was auch geschieht, ich werde dich immer lieben, Amanda. Na, das ist ja ein seltsamer Themenwechsel«, bedachte ich. »Und ja, ich mag ihn auch. Schnauze ist ein guter Hund. Er passt gut auf die Kinder auf«, gab ich ihr recht.
Amanda lachte ihr rauchiges Lachen. »Schnauze? Lass mich raten, diesen Namen hast du ihm gegeben?«
»Richtig«, schmunzelte ich. »Du kennst mich wirklich gut.«
»In-und-auswendig«, bestätigte sie und kuschelte sich an mich.
»Amanda?«, fragte ich.
»Nein, sag jetzt nichts mehr, Ragnor. Alles wird gut!«
Gemeinsam schwiegen wir den Sonnenuntergang an, der sich in noch nie dagewesener Farbenpracht vor uns präsentierte.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir bis zum Sankt Nimmerleinstag so verharren können. Leider ist das Schicksal unbestechlich und wenig verständnisvoll, was die traute Zweisamkeit angeht.
Erneut ließ sich das Eichhörnchen Ratatöskr neugierig aus Yggdrasils Krone in Richtung Stamm herab, starrte nach vorn und peitschte aufgeregt mit seinem puscheligen Schwänzchen. Deshalb war ich wenig erstaunt darüber, als Odin mit seinem achtbeinigen Hengst Sleipnir erschien. Die beiden Raben Hugin und Munin umkreisten ihn aufgeregt krächzend, was mich ein wenig ärgerte, da dieser Lärm die schöne Stimmung verdarb.
Hoch zu Ross nickte er knapp. »Ragnor, es wird Zeit!«
»Leb wohl!«, verabschiedete ich mich von Amanda, nahm sie nochmals in den Arm, vergrub meine Nase in ihrem Haar und sog ein letztes Mal den für sie so markanten Mandelduft ein.
»Leb wohl«, erwiderte sie. »Und sag bitte den Kindern nichts. Als Ärztin kann ich nur davon abraten, verheilte Wunden erneut zu öffnen. Blicke nicht zurück, Ragnor. Alles ist gesagt.«
Wir lösten uns voneinander. Sofort lief Amanda davon. Sie blickte nicht zurück. In meinem Hals steckte ein Kloß, weil ich wusste, sie weinte. Und vor allem wusste sie, wie sehr ich Abschiede verabscheute. Sie machte kein Drama daraus.
Odin reichte mir die Hand und half beim Aufsteigen. »Nun komm schon, Junge, die Zeit ist um!«, gab er Sleipnir die Sporen, was mich im Unklaren ließ, ob er mit mir, oder nicht doch mit dem Pferd sprach.
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