Étienne erschien wie aus heiterem Himmel und manifestierte, zog die Kapuze seines Hoodies vom Kopf, entblößte dabei einen pechschwarzen Irokesenschnitt und grinste zufrieden. Wenn es unter Vampiren einen Irren gab, so konnte man Étienne Lasalle getrost als einen solchen bezeichnen. Schon allein der unruhige, leicht verwackelte Blick seiner mit Kajal-Stift umrandeten Augen sprach Bände. Seine Joggingschuhe flogen beim Ausziehen unachtsam in x-beliebig verschiedene Richtungen.
Verärgert registrierte die blonde Marcy, dass sie von seinem rechten Schuh schmerzhaft am linken Oberschenkel getroffen worden war. Normalerweise kein Grund, um so etwas wie einen Schmerz zu empfinden, aber Marcy war schon immer sensibler als ihre Artgenossen. Nicht etwa, was das Schmerzempfinden betraf, sondern eher ihre allgemeine Empfindsamkeit psychischer Natur. Sie betrachtete diesen feindseligen Akt als bewusst vorgenommene Demütigung von Seiten Étiennes.
»Pass doch auf, wo du deine Schuhe hinwirfst, du Rüpel!«, machte sie ihrem Unmut Luft.
»Ach, ist unsere kleine Marcy heute wieder ganz besonders empfindlich?!«, ätzte Étienne zurück und warf ebenso lässig seinen Rucksack ab.
Pookie, genauso schwarzhaarig wie Étienne, hatte die ganze Zeit nervös auf ihren Liebsten gewartet und schmiss sich nun wie eine billige Hafenhure an ihn heran. »Du sollst doch nicht immer unser kleines Sensibelchen ärgern! Du böser Junge«, schnurrte sie wie eine rollige Katze und rieb sich an seinem Oberschenkel.
»Und du sollst mir nicht ständig sagen, was ich tun und lassen soll, Weib!«, knurrte Étienne zurück, packte Pookies Gesicht und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss, den sie erwiderte.
Marcy sah beschämt zur Seite. Sie verstand die beiden nicht, fand ihr Verhalten äußerst destruktiv und krank: »Müsst ihr euch immerzu dermaßen ablecken? Das ist einfach nur schamlos und widerlich!«
»Krieg´ dich wieder ein, prüde Marcy… Hast du das Feuerwerk am Pier gesehen?«, fragte er nicht ohne gewisse Anzeichen von Stolz.
»War das wirklich nötig? Wir haben uns doch darauf verständigt, dass es nur Tote gibt, wenn wir uns verteidigen müssen«, erwiderte Marcy daraufhin.
»Ach, du wieder! Du, mit deiner verquasten Moral! Das war eine reine Verteidigungsstrategie. Diese Bombe hat dem Geldsack Parks ein für alle Mal das Maul gestopft. Dies soll den anderen eine Warnung sein, über Dinge zu plaudern, die andere nichts angehen! Seht es mal so: Ich habe es für euch getan. Übrigens, erledigte ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Vampir, der hinter uns her schnüffelte, den hat die Explosion zerlegt. War ein extrem harter Brocken, der Kerl. Und er war alt, verdammt alt. Das sah ich an seinen Augen. Sie spiegelten die reinste Mordlust wider. Schade, dass ich keine Zeit mehr hatte, mir seinen Kopf zu holen!«, prahlte Étienne.
Die nicht so helle Pookie redete ihm mal wieder nach dem Mund. »Was für ein Anblick… Hättest du mir, wie einst der Salome, seinen Kopf auf einem Tablett gebracht?«
»Nein, denn das tat ich nicht für dich allein, du kleine Schlampe! Du weißt, wie unser Ziel aussieht. Denkt daran: Wenn wir uns an den Plan halten, werden wir das, was man uns genommen hat, wiederbekommen!«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Marcy.
»Ich bin mir hundertprozentig sicher, denn er gab mir sein Wort!«, knurrte Étienne, »Und wem können wir sonst glauben, wenn nicht diesem gottgleichen Wesen, he?«
Am Treppenabsatz erschien Marcus, der genau das Gegenteil von Étienne darstellte: Einen introvertierten, unaufgeregten Denker. »Étienne? Was musste ich da vernehmen? Du hast den Vampir, der auf uns angesetzt wurde, gleich mit in die Luft gesprengt? Das war nicht vereinbart. Du bist und bleibst ein verdammter Idiot, dem es nach Rache dürstet. Und für gewöhnlich macht Rache nicht nur uneinsichtig, sondern unberechenbar«, sprach Marcus leise, denn er erhob nie die Stimme. So konnte er sich sicher sein, dass alle die Ohren spitzten, wenn er etwas zu sagen hatte, was in der Regel von Gewicht war. Zudem galt er als der Älteste im Bunde und genoss vor allem ein hohes Ansehen.
»Ja, was dagegen, du Bücher fressender Grübler? Hat sich eben so ergeben!«, gab Étienne gereizt zurück. »Ich bin mir sicher, die vom Rat werden wieder einen neuen Vindicator auf uns ansetzen. Den holen wir uns dann auch noch!«
Marcy meldete sich wieder zu Wort. »Marcus hat recht. Du bist ein Idiot. Lauter kannst du wohl niemanden auf uns aufmerksam machen. Wie wäre es mit einem Neon-Leuchtpfeil, der auf uns zeigt? Denk doch mal nach: Wenn der Vampir alt war, hat er sicherlich ebenfalls ein paar Geschöpfe, die uns jetzt den Krieg erklären! Étienne, du bist nicht nur ein simpler Idiot, sondern ein schier unberechenbarer dazu!«
»Ach, denkt doch was ihr wollt! Trotzdem braucht ihr mich und meine Fähigkeiten! Wenn wir nicht das gleiche Ziel hätten, würde ich euch dämliche Spießer nicht mal mit dem Arsch ansehen!«, fauchte Étienne zurück. Seine Eitelkeit vertrug keine Kritik, egal ob konstruktiv, oder nicht. So war er schon immer: Eitel, euphorisch und dazu schnell gereizt. Eben ein echtes Kind der Französischen Revolution. Zuerst glaubte sich jeder vom Stand befreit, doch dann, als Saturn seine eigenen Kinder verspeiste, tief enttäuscht vom neuen Establishment.
»Keine Alleingänge von deiner Seite mehr, Étienne«, sagte Marcus. »Fehde hin oder her, wir müssen jetzt aufbrechen. Die Reise geht weiter. Unser nächstes Ziel wartet bereits auf uns. Étienne, hast du den Wagen besorgt?«
»Jepp! Einen Transporter mit abgedichteten Scheiben. Er ist schlicht und unauffällig, wie vereinbart.«
»Gut, lasst uns jetzt packen. Ich sage Fiona und Berenice Bescheid. Wir treffen uns dann unten, am Wagen.«
*
Natürlich gibt es eine jenseitige Welt. Die Frage ist nur: wie weit ist sie von der Innenstadt entfernt, und wie lange hat sie offen.
(Woody Allen)
Das Erste, was ich wahrnahm, war das Summen von Insekten und die Weichheit eines warmen Schoßes, in dem mein Kopf gebettet lag. Das Zweite: Wärmende Lichtstrahlen, die durch meine geschlossenen Lider alles in ein warmes Rot hüllten. Das Dritte waren... leise, weibliche Stimmen, die flüsternd miteinander sprachen? Ja, in der Tat...
Stimme eins: »Da! Ich hab´s genau gesehen! Seine Lider bewegen sich!«
Stimme zwei: »Ja, Mädels! Er kommt zu sich!«
Stimme drei: »Passt doch auf, Skuld! Du dumme Nuss hast mir Wasser über den Fuß geschüttet!«
Stimme Nummer vier: »Euer Voyeurismus nervt. Könntet ihr nicht einfach verschwinden? Habt ihr etwa noch nie etwas von Privatsphäre gehört?«
Diese Stimme war mir nur allzu sehr bekannt. Sie riss mich sofort aus meinem Dämmerzustand…
»Amanda?«, fragte ich verwirrt. »Wie kann das sein? Du bist doch tot.«
»Na und? Du doch auch!«, antwortet sie gewohnt schnippisch. »Könntest du diesen aufdringlichen Damen bitte selbst sagen, sie sollen abdampfen?«
Vorsichtig begab ich mich in eine sitzende Position und betrachtete das muntere Damentrio. »Oh, wir kennen uns! Urd, Skuld und Verdandi… Ihr seid die drei Nornen!«
Die blonde Norne namens Skuld nickte, so wie ihre beiden Begleiterinnen. »Ja, es ist verdammt lange her, Ragnor. Trotzdem muss ich deine Gattin darauf hinweisen, dass ihr euch nicht im Reich der Toten aufhaltet, sondern in der Zwischenwelt.«
»Ja, das stimmt. Ich war schon einmal hier, um meinen Vater zu suchen.« Ich sah nach oben. Über mir breitete der Weltenbaum Yggdrasil seine mächtigen Äste aus, die uns Schatten spendeten. »Okay, ich kann mir durchaus erklären, warum ihr hier seid. Ihr hütet den Weltenbaum. Aber du, Amanda… Was machst du hier?«, fragte ich verwirrt. »Habe ich einen Dachschaden? Irgendwie passt das überhaupt nicht zusammen!«
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