Ich riss die Augen auf, hob den Kopf und erbrach zur Seite. Entkräftet blieb ich einige Minuten liegen und starrte auf eine dunkle Holzdecke. Noch immer schwankte alles und ich merkte, dass es nicht mein Kopf, sondern der Ort an dem ich mich befand, war. Ich kannte diese Art von Schwanken, es war der Wellengang auf hoher See und diese Erkenntnis schockte. Ich musste auf einem Schiff sein.
Vorsichtig versuche ich mit den verbliebenen Kräften aufzustehen und mir ein Bild von diesem Ort zu machen. Ich war in einem Holzverschlag eingesperrt, dessen einzige Beleuchtung durch ein vergittertes Fenster in der Tür kam. Das Licht stammte wiederum von einer im Gang davor hängenden Petroleumlampe, die hin und her schwankte. Mein Gefängnis war höchstens zwei Meter tief und einen breit. Es stank fürchterlich. Zuerst dachte ich, es sei mein Erbrochenes, doch der Geruch sprach Bände. Ahnend, das vor mir schon andere den Luxus genossen hatten, hier drin zu verkehren.
Ich versuchte die letzte Erinnerung aufzurufen und sah schemenhaft den Überfall der Inder im Pensionszimmer vor mir. Auch an den scharfen Dolch erinnerte ich mich und fasste über die rechte Kinnhälfte. Die Erinnerung hatte nicht getrogen, der Bart war an dieser Stelle glatt abrasiert. Auf einen Blick in den Spiegel wollte ich vorerst verzichten. Ich musste echt komisch mit einem halben Vollbart aussehen.
Mit wackeligen Knien schleppte mich zur Gefängnistür. Ich rüttelte vergeblich daran und sah durch Gitterfenster ein rostiges Vorhängeschloss die Tür verriegeln. Ein metallisches Klirren drang an mein Ohr beim aufstehen und sah, das ich mit einer Fußfessel am rechten Fuß an die Rückwand gekettet war. Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen, dass ich nicht abhaute. Dabei bemerkte ich, das ich nackten Fußes dastand. Überhaupt besaß ich nur noch Hemd, Hose und die Unterwäsche darunter. Von den Schuhen fehlte jede Spur.
Ich blickte durchs Gitterfenster in den leeren Korridor, in der Hoffnung Hinweise zu finden, wie es weitergehen würde.
„Hallo? Ist da jemand?“ rief ich, aber auf eine Antwort wartete ich vergebens. Ich rief noch einmal, diesmal auf Englisch, doch auch jetzt wollte niemand mir Beachtung schenken.
Da entdeckte ich rechts in einer Korridornische zwei Füße am Boden liegen. Es sah so aus, als säße dort ein Mensch. Leider war der Rest des Körpers im Dunkeln der Nische nicht zu sehen, was ich aber sah, waren die Fußfesseln, die auch er trug. Jemand mit gleichem Schicksal.
„Heh!!! Kannst Du mich hören? … Bitte antworte doch!“
Das Schiff geriet in stärkeren Wellengang und ließ die Petroleumlampe mehr schwanken. Für einen Moment sah ich den anderen Gefangenen deutlich und schrak zusammen. Ich kannte ihn, es war Franck, der Erste Maat der LEVIN. Doch er würde mir nie antworten. Die gebrochenen Augen und das geronnene Blut überm Oberkörper sagen alles. Ihm war nicht das Glück zuteil gewesen, nur den Bart gestutzt zu bekommen.
Verzweifelt mit dem Gedanken im Hinterkopf auch so zu enden, trat ich in die Zelle zurück, setzte mich hin und lehnte gegen die nächste Holzwand. Wie würde es weitergehen und warum lebte ich überhaupt noch? Auch fragte ich mich, warum Franck gefangen und getötet wurde. In mir kam der Verdacht hoch, nun zu wissen, warum die LEVIN bisher nicht zurückgekehrt war. Sie würde ihren Heimathafen nie wieder anlaufen.
Ich nahm mir die Zeit und trauerte über den Verlust meiner Freunde. Dachte an Kapitän Reno, wie ich ihm das erste Mal im Hafen von Nantes begegnete, wie er mich auf die LEVIN einlud und er mir so vieles zeigte. Die Gesichter der Crew darunter Jean und Luc erschienen vor meinem geistigen Auge. Es tat sehr weh, zu wissen oder zu ahnen, das sie nicht mehr am Leben sein würden. Doch auch wegen meinem Schicksal weinte ich und begann deshalb zu beten.
Ich weiß nicht, wie lange ich trauerte und verzweifelte, aber irgendwann schlief ich entkräftet ein.
Vom Grummeln meines Magens geweckt wurde mir bewusst, das ich schon länger weder gegessen, noch getrunken hatte. Wie lange befand ich mich eigentlich schon in diesem Gefängnis? Und warum war ich überhaupt noch am Leben? Diese Fragen nagten an mir. In der Pension sah meine Zukunft überhaupt nicht rosig aus, ich dachte man würde mir die Kehle durchschneiden. Gerettet haben mich scheinbar Alexandres Zeichnungen von den Symbolen. Die haben alles riskiert, um an die Muschel mit den Symbolen zu gelangen. Schreckten weder vor Mord, noch vor Entführung zurück.
Warum war sie ihnen so wichtig? Bestimmt dachten die, weil ich Zeichnungen von den Symbolen hatte, dass ich mehr über sie wusste als angenommen und wollten kein Risiko eingehen. Sie mussten sicher sein, was ich wusste. Man waren das komplizierte Gedanken. Aber es brachte mich näher an einen Vorteil heran, den, wenn ich ihn richtig ausspielte das Leben verlängerte.
Metallisches Geklapper erschreckte. Jemand öffnete das Vorhängeschloss, was wohl bedeutete, dass sie mich holten.
Das Metallscharnier quietsche fürchterlich als die Holztür aufschwang. Ich rechnete mit allem und jedem, und dennoch war ich überrascht. Vor mir stand ein kleiner dunkelhäutiger Junge in zerrissenen und verdreckten Leinen. Er war vielleicht gerade 8 Jahre alt. Die schwarzen Haare zerzaust und verfilzt, was ihn wie einen Straßenjungen wirken ließ. Vielleicht war er es in seiner Heimat Indien gewesen, denn ich konnte Ähnlichkeiten im Gesicht mit meinen Kidnappern feststellen. Barfuss trat er näher heran. Der Junge wirkte freundlich mit einer etwas dicklichen Stupsnase und großen braunen Augen. In den Händen trug er eine Tonschale und einen Becher, die er mir reichte. Mit zitternden Fingern nahm ich sie entgehen und merkte, wie wenig Kraft ich eigentlich noch hatte, als mir die Schale aus der Hand glitt. Zu Glück blieb sie heil. Nur ein Teil des Inhalts verstreute sich über den Boden.
Die Schale war gefüllt mit gekochtem Reis, also wollte man sichergehen, dass ich am Leben blieb. Vorsichtig stellte ich den mit Wasser gefüllten Becher neben die Schale.
Währenddessen schloss der Junge die Tür.
„Warte!“ rief ich und merkte, das ich kaum noch Spucke besaß. „Wer bist du?“
Der Junge zögerte und schaute mich unsicher an. Ich hatte ihn extra in Englisch angesprochen, weil ich wusste, dass diese Sprache durch die Britische Kolonisierung in Indien weit verbreitet war.
„Wie heißt du? … Ich bin Jules.“ Sagte ich und zeigte dabei auf mich, doch auch diesmal bekam ich keine Antwort.
Dann zeigte ich aufs Essen und neigte den Kopf.
„Danke.“
Er schloss die Tür ganz und verriegelte sie. Ich hoffte, er hatte meine Dankbarkeit verstanden.
Vorsichtig roch ich am Becher, es schien wirklich Wasser zu sein. Ich nippte zaghaft daran. Es schmeckte, obwohl ich es leicht salzig empfand, aber es tat verdammt gut. Der Reis war kalt, klebrig und hatte eine gelbliche Färbung, die vermutlich von Gewürzen stammte. Ich aß ihn und war erstaunt, dass er mir schmeckte trotz der kräftigen Würze. Der Hunger war so groß, das ich vergaß das Essen einzuteilen und aufaß. Zum Glück hatte ich mich bei dem Wasser mehr unter Kontrolle und es hielt einige Zeit länger.
Stunden vergingen. Ich wusste nichts anzufangen als zu grübeln und zu schlafen. Irgendwann war der Durst zurückgekehrt und ich verfluchte mich, mit dem Wasser nicht noch länger Hausgehalten zu haben. Warum war ich nur so durstig? Mein Mund schien mit der Zeit immer mehr auszutrocknen.
Es vergingen weitere Stunden und ich hatte längst mein Zeitgefühl verloren. Ohne Blick zum Himmel konnte ich nicht sagen, ob es gerade finstere Nacht oder helllichter Tag war. Ich wusste nicht warum, aber der Durst wurde immer schlimmer und nahm mir jede Kraft.
Irgendwann hörte ich im Halbschlaf, wie jemand wieder meine Gefängnistür öffnete und schaute hoch, in der Hoffnung den Jungen wiederzusehen. Doch diesmal blickte ein hochgewachsener Inder von oben auf mich. Ich fragte mich, ob es derselbe war, der mir mit seinem Dolch den Bart stutzte. Er war bestimmt zwei Meter groß und hatte die Statur eines Schranks. Markant war die breite Narbe auf der linken Wange. Ihn hatte ich damals im Hafen von Nantes gesehen. In seiner großen Hand, einer Bärenpranke gleich, hielt er einen kleinen Schlüssel, was das Bild, wie er meine Fußfessel öffnete, irgendwie surreal gestaltete. Dann packte die Pranke mich und zog mich auf die wackeligen Füße. Er schubste mich den Korridor hinunter, dabei wäre ich beinahe hingefallen.
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