1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Rücklings gegen die Wand gelehnt senkte ich den Kopf zwischen die Knie. Wie sollte es nur weitergehen? Da piekste etwas in meinen Rücken. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als alter rostiger Nagel heraus, der nicht richtig eingeschlagen zu sein schien. Mit einem wenig Gewackel hielt ich den leicht krummen gut zehn Zentimeter langen Metallstift in den Händen.
Vielleicht konnte ich damit die Fußfessel öffnen, dachte ich und stocherte im Schloss herum. Es dauerte eine ganze Zeit bis ich ein Gefühl dafür bekam, wie ich den Nagel ansetzen musste, damit er den beweglichen Teil im Schloss verschob.
„Autsch.“ Fluchte ich laut, als der Nagel entzweibrach und beim abrutschen über mein Bein schrammte. Das reichte für eine blutende Schramme, die ich mit einem Stück von meinem Hemd verband. Die Kleidung war eh nicht mehr wirklich zu retten, da machte es nichts, wenn ich sie für mich selbst zerriss.
Meinen ursprünglichen Gedanken mit dem Nagel die Schlösser zu öffnen und zu fliehen schloss ich ab. Doch bevor ich wieder in meine Gedankenwelt eintauchen konnte, hörte ich lauter werdende Schritte. Wollte man mich wieder zu Agarwal bringen? Konnte nicht sein, denn diese Schritte klangen leiser und nicht von Stiefeln. Es musste der Junge sein und so war es. Er schloss meine Zellentür auf und trat näher. Erst dachte ich, er brachte wieder Essen oder Wasser, doch die Hände waren leer. Wortlos setzte er sich im Schneidersitz vor mich. Dann griff er unter sein Hemd und zog eine Orange und ein Stückchen Brot hervor. Mit beiden Händen hielt er es mir hin und verneigte dabei den Kopf. Ich verstand ihn. Er dankte mir, das ich seine Prügel eingesteckt hatte und für sein Leben. Zögernd nahm ich ihm die Orange und das Brot ab.
„Vielen Dank.“ Sagte ich.
Mit einem Lächeln und strahlen in den Augen schaute er zu mir. Ich glaube, ich hatte einen neuen Freund gefunden.
Als ich begann die Orange zu pulen, bemerkte ich, dass sie eigentlich gar nicht mehr gut war und ein genauerer Blick aufs Brot zeigte Schimmel. Ich wollte mich gerade fragen, warum er verdorbenes Essen brachte, als ich ein Grummeln hörte. Es kam vom Magen des Jungen und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war eigentlich seine Essensration, die er mir aus Dankbarkeit schenkte. Dieser Unmensch von Agarwal. In seinen Augen musste der Junge nichts wert sein und deshalb gab er ihm nur vergammeltes Obst und Essensreste. Ich hätte heulen und schreien können, als ich diese Ungerechtigkeit fühlte, doch ich entschied mich zu etwas, was eigentlich Überwindung gekostet hätte. Ich brach das Brot in zwei Hälften und teilte auch die Orange, dann reichte ich sie dem Jungen, der mich zuerst leicht verstört anblickte, doch dann mit Tränen in den Augen anlächelte. Wortlos aßen wir das verschimmelte Brot und die verdorbene Orange. Ein unbeschreibliches gutes Gefühl breitete sich in mir aus und ließ mich lächeln. Das sorgte dafür, dass der Junge und ich uns die ganze Zeit über fröhlich anschauten.
Als er aufgegessen hatte, zeigte er auf sich und sagte: „Raj.“
„Jules.“ Tat ich ihm gleich.
Wir unterhielten uns eine ganze Zeit, obwohl unterhalten das falsche Wort dafür war, da er nur wenige Worte englisch sprach und mehr in indisch redete, was wiederum ich nicht verstand, noch sprach. Aber wozu hatten wir denn Hände, Füße und die Logik des Verstandes mit dem wir Beide alles, was unsere Ohren nicht wahrnahmen eher mit dem Herzen erfassten. Ich erzählte, dass ich Kinder hatte nicht älter als er, woher ich kam und ich eine Geschichte über das Fliegen in einem Ballon geschrieben hatte. Eigentlich weiß ich nicht, ob er wirklich verstanden hatte, dass es eine erdachte Geschichte war, aber die leuchtenden Augen zeigten, wie sehr ihn diese berührte. Vielleicht war es seine Vorstellung von Freiheit, der Unterdrückung von Agarwals Männer auf diesem Schiff, entfliehen zu können.
Raj hatte viel durchgemacht, wie er mir erzählte. An Vater oder Mutter konnte er sich nicht erinnern. Von Klein auf an versuchte er in den Strassen eines kleinen indischen Dorfes, dessen Namen er nicht kannte, zu überleben. Almosen und kleinere Diebstähle bedeuteten am Leben zu bleiben. Irgendwann hatte er versucht Nahrung von Kapitän Agarwals Provianteinkauf in jenem Dorf zu nehmen und wurde erwischt. Anstatt ihn zu töten, was meist das Schicksal der Straßenkinder war, nahm Agarwal ihn an Bord, wo er jede undankbare Aufgabe übernehmen musste. Angst und Furcht waren ständigen Begleiter, weil er von jedem an Bord nur schikaniert wurde. An die vielen Schläge, Tritte und wer weiß, was noch, vermochte ich nicht zu denken.
Ich hatte den Eindruck, dass ich der erste Mensch war, der wirklich an ihm interessiert war, der zeigte, dass er gemocht wurde. Wie gern hätte ich Raj geholfen, wenn nicht mein eigenes Schicksal ähnlich ungewiss war.
Vier weitere Tage vergingen, ohne dass ich Agarwal zu Gesicht bekam. In diesen Tagen besuchte mich Raj jeweils einmal, um mir einen Krug Wasser zu bringen und den Eimer für die Bedürfnisse auszutauschen, sowie ein weiteres Mal, um der Erzählung von der Reise im Ballon zu lauschen. Dabei aß er immer seine Essensration, die er jedes Mal mit mir teilte. Weil er so ein Leuchten in den Augen hatte, wenn ich davon berichtete, versuchte ich die Ballonreise mit Hilfe von Geräuschen und Gesten bildlicher zu gestalten.
Leider ging es mir von Tag zu Tag gesundheitlich schlechter. Am dritten Tag fieberte ich in der Nacht und kalter Schweiß netzte meine Stirn. Kein Wunder bei diesen schlechten Bedingungen. Leider wusste ich nicht, was ich tun sollte, abgesehen einen Weg in die Freiheit zu finden. Aber wie mit der schweren Kette am Fuß. So fern ich es mitbekommen hatte, trug den Schlüssel der große Inder in der Tasche, der mich zu Agarwal gebracht hatte. Ich fragte Raj, ob er an ihn herankommen könnte, doch schüttelte er jedes Mal verängstigt den Kopf, was ich durchaus verstand. Dennoch versprach ich ihm einen Plan auszudenken, wie er und ich zusammen von diesem Schiff entfliehen könnten. Mein Plan sah vor, sobald ich die Kette los war, ein Beiboot zu Wasser zu lassen und damit weg zu rudern. Raj lachte bei dem Gedanken mit mir zusammen zu verschwinden.
Dann am Morgen des fünften Tages riss mich eine gewaltige Hand mitten im Schlaf auf die Beine. Der Inder stand vor mir und brachte mich erneut zu Agarwal. Ich hätte gerne mehr Widerstand geleistet, doch das Fieber raubte mir Kraft. In Agarwals Kajüte warf er mich in den Holzstuhl und band mit einem Seil meine Arme an die Lehnen. Ich schaute Agarwal an, der erneut stattlich hinterm Schreibtisch stand und zum blauen Ozean hinausblickte.
„Ich hoffe Sie haben in den letzten Tagen meine großzügige Gastfreundschaft genossen?“
„Auf die eine oder andere Art“ erwiderte ich.
„Schön. … Da Sie ja wissen, was ich möchte. Sprechen Sie?“
Sekundenlang überlegte ich, wie ich antworten sollte - ihm erzählen, dass ich nichts wusste oder etwas erfinden.
„Es war einmal, ein …“
„Halten Sie mich nicht zu Narren!“ unterbrach er mich sogleich und gab meinem Bewacher ein Zeichen. Ehe ich mich versah, flog mein Kopf zur Seite und alles drehte sich. „Das war nur die Rückhand. Jetzt stellen Sie sich vor, es wäre seine Faust gewesen.“
„Daran möchte ich nicht denken.“
„Dann hören Sie auf mir Märchen zu erzählen. Sie wissen ganz genau, wie bedeutend die Zeichen sind und welches Geheimnis sich dahinter verbirgt. Die Zeichnungen beweisen es. Auch Sie sind auf der Suche, geben Sie es zu.“
„Wenn Sie schon die Antworten kennen, warum fragen Sie dann.“ Mit bedachten Worten, was nicht leicht war, da ich dank des Fiebers und des Schlages pochende Kopfschmerzen hatte, antwortete ich.
„Schön, wir kommen voran. Doch bevor wir über die Einzelheiten Ihrer Ergebnisse sprechen, will ich von Ihnen etwas ganz Anderes wissen. Woher haben Sie das Artefakt?“ Er hielt meine Muschel in den Händen. „Es wurde uns gestohlen und deshalb will ich wissen, von wem Sie es bekommen haben.“
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