Dieter Rieken
AndroSF 131
Dieter Rieken
LAND UNTER
AndroSF 131
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juli 2020
p. machinery Michael Haitel
Titelbild: Collage lizenzfreier Bilder von Pixabay
Layout & Umschlaggestaltung: Dieter Rieken, global:epropaganda
Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p. machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www. p machinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 204 1
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 886 9
»Während der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert weltweit um etwa 15 Zentimeter gestiegen ist, steigt er aktuell mehr als doppelt so schnell – um 3,6 mm jährlich. Das wird sich beschleunigen. Bis 2100 könnte er (…) etwa 60–110 cm erreichen, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen weiterhin stark anwächst.«
Presseinformation des Weltklimarats IPCC zum
Sonderbericht über die Ozeane und die Kryosphäre
25. September 2019
»Durch das rasche Abschmelzen des Meereises und der polaren Eisschilde ist der Meeresspiegel in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts weitaus schneller gestiegen als prognostiziert – weltweit um mehr als 12 Meter. Bis zum Jahr 2100 könnte er (…) etwa 16–20 m erreichen.«
Presseinformation des Weltklimarats IPCC zum
Sonderbericht über die Ozeane und die Kryosphäre
18. Juli 2057
1·Der fliegende Holländer
Als Enno über das Balkongitter ins Boot stieg, griff eine Böe nach ihm und ließ ihn beinahe straucheln. Der Wind brachte den Stoff der Kapuze so heftig zum Flattern, dass es wie ein Trommelwirbel in seinen Ohren klang.
Nicht gerade das ideale Wetter, um zur Anlage rauszufahren, dachte er, während er sich auf der Achterducht niederließ und den Motor startete. Aber es war ja nicht sein erster Einsatz bei stürmischem Wind und rauer See. Enno hoffte nur, dass Nummer 12 ihn nicht mit einer aufwendigen Reparatur überraschte. Der Wetterdienst hatte einen Sturm angekündigt, und dieser würde sicher bald eintreffen.
Er ärgerte sich über die Stiche hinter den Schläfen. Während er das Boot durch die von Back- nach Steuerbord vorüberziehenden Wellen lenkte, verfluchte er das Bier, das er gestern Abend im Heaven getrunken hatte. »Irgend so 'n Billigbier«, hatte ihm Hose, sein bester Freund und Betreiber des Heaven , achselzuckend mitgeteilt. »Ist von Chris. Sie sagt, es gibt im Moment nichts anderes.« Das hatte Enno als Erklärung gereicht. Gutes Bier war überall schwer zu bekommen, es sei denn, man war dazu in der Lage, überhöhte Preise zu bezahlen. Die meisten Leute hier draußen lebten aber von der Hand in den Mund. Darum kaufte die Schlepperkapitänin Chris, die Ennos Nachbarschaft seit Kurzem mit Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln versorgte, in der Regel ausschließlich Waren ein, die ihre Kunden sich auch leisten konnten.
Er zog den Ärmel der Öljacke hoch, wischte die Feuchtigkeit vom Display des PUC, des Personal Universal Communicators an seinem Unterarm, und vergewisserte sich, dass er sich nicht umsonst so früh aufgemacht hatte. Nein, die Message war eindeutig: ein Auftrag der Stufe eins. Golden Blades 7 , Gondel Nummer 12. Kein Kontakt zum Umweltüberwachungssystem. Die Sache war ganz einfach: Dringlichkeitsstufe eins verlangte eine umgehende Erledigung; Enno war der für Golden Blades 7 zuständige Wartungstechniker; und er hatte den kürzesten Weg bis zur Offshore-Windkraftanlage.
Wenn er den Auftrag nicht gewollt hätte, wäre ihm schon eine Begründung eingefallen, ihn abzulehnen. In diesem Fall hätte das Predictive-Maintenance -Team in der Hafenstadt Achim den nächstbesten Techniker benachrichtigt. Doch Enno machte sich nichts vor: Er hatte einen Flexkontrakt. Für Bereitschaft gab es nur die Sockelvergütung, also fast nichts. Und er war diese Woche erst einmal im Einsatz gewesen. Davon konnte er nicht leben. Also hatte er den Auftrag bestätigt, noch bevor er richtig wach gewesen war.
Der Nordwestwind blies jetzt so stark, dass er den jungen Mann fast über Bord schob. Zugleich zwang er ihn dazu, immer wieder den Kurs zu korrigieren. Das störte Enno aber nicht. Vielmehr genoss er die Herausforderung, vor die ihn das Wetter stellte. Außerdem liebte er das auf wenige Farbtöne reduzierte Panorama, das ihm ein Morgen wie dieser bot. Das aufgewühlte Wasser sah aus wie Granit, der von Schieferstreifen durchzogen war. Ein Wolkenband verdeckte die noch tief stehende Sonne und sorgte dafür, dass sich die Kolorierung des Himmels kaum von der des Meeres absetzte. Am Horizont gingen Wasser und Wolken beinahe nahtlos ineinander über. Nur die Wellenkämme waren mit Gischt gesäumt und bildeten einen scharfen Kontrast zu den verschiedenen Grauschattierungen.
Er war froh, dass es nicht regnete. Ein bisschen schämte er sich für diesen Gedanken, denn ihm war klar, dass den Landwirten nach vier Monaten Dürre jeder Tropfen willkommen gewesen wäre. Regen hätte die Überfahrt jedoch sehr unangenehm gemacht. Enno besaß eine Persenning und ein flexibles Gestänge, mit dem er sie leicht aufspannen konnte. Er benutzte die Konstruktion aber nur als Sonnenschutz. Bei diesem Wetter hätte sie ohnehin nicht lange gehalten.
Während er sich Golden Blades 7 näherte, zeigte das Display des PUCs eine Windgeschwindigkeit von knapp vierzig Knoten an. Über siebzig Stundenkilometer, überschlug Enno im Kopf, Stärke acht also. Er bemühte sich, durch die Nase zu atmen, weil ihm jedes Mal, wenn er die Lippen öffnete, eine Böe die Luft aus dem Mund riss. »Das verschlägt dir den Atem«, nannte Hose dieses Phänomen. Enno lächelte, als er sich an das Wortspiel seines Freundes erinnerte.
Zwischen den Türmen der Windkraftanlage fing seine Kapuze wieder an, laut zu flattern. Immerhin war er jetzt wach, und die Kopfschmerzen hatten sich ein wenig gelegt.
Bei Nummer 12 angekommen, schnallte er sich den Rucksack um, in dem sich Werkzeug und Ersatzteile befanden, wickelte die Befestigungsleine um das Handgelenk und kletterte die Leiter zum Einstieg hinauf. Er erreichte die Plattform, die den Turm zur Hälfte umrundete, und machte das Boot an einem Ring fest. Anschließend presste er sich gegen die Wand und schob den linken Arm durch einen der Haltegriffe. Mit der freien Hand öffnete er den Reißverschluss der Öljacke. Trotz der frühen Stunde war es schon so warm, dass er in der Wetterschutzkleidung ins Schwitzen kam.
Über den PUC stellte er Kontakt zur Steuerung des Windrads her. Auf dem Display verfolgte er, wie sich die Luke der Gondel öffnete und der Motor der Winde ansprang. Enno legte den Kopf in den Nacken. Mit bloßem Auge konnte er dort oben keine Bewegung feststellen. Dadurch wurde ihm einmal mehr bewusst, wie riesig die Windräder waren. Die Gondel, die den Rotor trug, befand sich hundertzwanzig Meter über ihm. Aus seiner Perspektive wirkte sie wie ein Spielzeug. Dabei war sie fast so groß wie ein Haus und wog mehrere Hundert Tonnen.
Es dauerte ein paar Minuten, bis er den Lasthaken erkennen konnte, der sich zu ihm herabsenkte. Das Wartungspersonal nahm für den Aufstieg in der Regel die Leiter im Innern des Turms. Enno pfiff darauf. Es war ja nicht verboten, die Winde als Fahrstuhl zu nutzen. Er stieg mit einem Fuß in den schweren Haken, sicherte sich ab und ließ sich hinauftragen.
Er hatte noch keine zehn Meter hinter sich gebracht, da begann es zu hageln. Zum Glück hielt der Schauer nicht lange an. Anderenfalls hätte Enno wieder hinunterfahren und das Boot abdecken müssen.
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