Enno war sicher, dass es während seiner Schulzeit noch Kontingente für britische Flüchtlinge gegeben hatte. In Neßmersiel war eines Tages eine schwarze Familie aufgetaucht, die ursprünglich aus Hull stammte. Seine Mutter hatte sich zusammen mit anderen Ehrenamtlichen um die Neuankömmlinge gekümmert. Anfang der Vierzigerjahre war die Politik der Europäischen Union restriktiver geworden. Deutschland – damals noch grün-links regiert – hatte keine von den Britischen Inseln Geflüchteten mehr aufnehmen dürfen. Das musste der Zeitpunkt gewesen sein, als Frontex die Nordseeküste zu überwachen begonnen hatte. Seitdem wurden alle Schiffe zurückgeschickt, bevor sie europäische Gewässer erreichten. Dabei ging die Grenzschutzagentur genauso konsequent und gnadenlos vor wie seit Jahrzehnten auf dem Mittelmeer und in Griechenland.
»Ich war zweiundvierzig zuletzt drüben«, berichtete der alte Mann und machte eine Geste in Richtung Horizont. »Das Land war in einem desolaten Zustand. In die Infrastruktur wurde kaum noch investiert. London stand zu großen Teilen unter Wasser. Die Themse war kilometerbreit, eine einzige, stinkende Kloake. Und überall, wo man hinsah, herrschte Armut.«
Einmal, bevor er Piet gekannt hatte, war Enno auf halbem Weg zum Windpark einem etwa fünfzigjährigen Mann begegnet. Dieser hatte es mit seinem Segelboot geschafft, durch die Maschen des eng gespannten Netzes an Patrouillen zu schlüpfen. Dabei war ihm der Seenebel zugutegekommen, ein Wetterphänomen, das immer dann entstand, wenn der Wind Richtung Norden drehte und die über dem Festland erhitzten Luftmassen über das kühlere Wasser blies.
Der Mann war Enno auf Anhieb sympathisch gewesen. »Ein Bäcker aus Broadstairs. Hatte seinen eigenen Laden gehabt«, erzählte er dem Alten. »Dann kam das Meer. Die Stadt, die Leute, seine Heimat – alles weg. Er hatte früher an Regatten teilgenommen und kannte sich mit kleinen, schnellen Booten aus. So war es ihm gelungen, die vierhundert Meilen auf See unbeschadet hinter sich zu bringen – die Hälfte davon ohne Sicht, nur mithilfe eines Kompasses. Er hoffte, an der Küste unbemerkt an Land gehen zu können. Hatte vor, sich von dort nach Süddeutschland durchzuschlagen. Keine Ahnung, was er da wollte.«
Enno hatte großen Respekt vor dem Mut des Mannes und dessen Geschick mit dem Boot gehabt. Er hatte ihm geraten, ein Waldgebiet bei Sandkrug anzusteuern, knapp hundert Kilometer Richtung Südsüdost. »Passen Sie bloß auf, dass Sie an der Küste einen Bogen um die Aquakulturen machen«, hatte er den Mann ermahnt. Der Segler war dankbar gewesen, die Koordinaten zu erhalten. Enno hatte ihm versichert, dass man den nächsten Bahnhof von dort aus zu Fuß erreichen konnte.
Er habe dem Segler Glück gewünscht – und sich insgeheim für den Mann gefreut, erzählte er Piet. »Den gefährlichsten Teil seiner Reise hatte er längst hinter sich.« Das letzte Stück des Wegs sei im Vergleich dazu ein Kinderspiel gewesen.
Enno musste an die Flüchtlinge denken, die vor der Ludgerikirche gestrandet waren. Sie hatten nicht so viel Glück gehabt.
»Mir tun die Briten leid«, sagte er.
»Mir tun alle Leute leid, die heimatlos sind«, sagte Piet. »Manchmal tu ich mir selber leid.« Er lächelte versonnen.
Enno spürte, dass der alte Mann seine Worte ernst meinte. »Wir haben es doch schön hier«, versuchte er, seinen Nachbarn aufzumuntern. »Hauptsache, man ist nicht alleine. Ich finde, es gibt genug Leute, die einsam sind.«
Piets Mund zuckte, ganz leicht nur und auf eine Weise, die Enno nicht deuten konnte. War es Missbilligung?
Der Alte hob den Feldstecher wieder an die Augen und richtete ihn auf den Horizont. Enno nahm an, er hätte sich verschlossen, wie es immer wieder mal vorkam.
Da räusperte Piet sich und brummte: »Das ist ein wahres Wort, mein Junge.«
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