Heute fehle ihm oft die Kraft, sich für etwas so ins Zeug zu legen wie früher, hatte er Chris einmal gestanden. Nach dem Anschlag sei ihm fast alles, was er einmal hätte erreichen wollen, sinnlos erschienen. Das fand sie schade. Doch sie akzeptierte ihn, wie er war – genauso wie er ihr Tun und Denken zwar hinterfragte, sie aber nie zu einer Änderung ihres Verhaltens oder einer Sichtweise drängte.
Gegen zehn brach Chris wieder auf. Nachdem der Schlepper abgelegt und Kurs auf tiefere Gewässer genommen hatte, schwamm Enno eine halbe Stunde, um etwas für seine Fitness zu tun. Den Rest des Vormittags verbrachte er auf dem Sofa. Er las einen Roman, den er vor Jahren in einem Antiquariat in Osnabrück gekauft hatte, und knabberte an einem Proteinriegel. Dabei döste er immer wieder ein. Später checkte er auf PUC News die aktuellen Nachrichten.
Dabei bemerkte er, dass er sich weder auf die Kommentare noch auf die Bilder konzentrieren konnte. Seine Gedanken schweiften ein ums andere Mal zu Chris ab.
Sie hatten es stets vermieden, über ihre Beziehung zu sprechen. Es war nicht notwendig gewesen, ihre Gefühle zu thematisieren – erst recht nicht, da ihre Treffen in erster Linie sexuell motiviert gewesen waren. Es kam Enno so vor, als hätte sich das geändert, zumindest was ihn betraf. Er mochte Chris sehr, und er vertraute ihr. Im Laufe der vergangenen Monate hatte er sich ihr auf eine Weise geöffnet, die sogar über das hinausging, was er mit Hose teilte. Vielleicht sollte er ihr sagen, dass er etwas anderes, etwas Verbindlicheres wollte, als sie es derzeit hatten.
Dieser Gedanke verunsicherte ihn. Gab es für ihre Beziehung denn überhaupt eine Aussicht auf mehr?, fragte er sich. Dass sie dreißig war, drei Jahre älter als er, spielte für ihn keine Rolle. Dagegen frustrierte es ihn, dass er nicht mit Sicherheit hätte sagen können, ob sie seine Gefühle teilte. Nach außen gab sie sich in der Regel taff, sachlich und verbindlich. Enno hatte sie darüber hinaus als humorvoll, verspielt und verletzlich kennengelernt – Seiten an ihr, die sie vor anderen Menschen verbarg. Doch was wusste er noch über sie?
Er hatte bis heute kaum etwas über Chris’ Familie erfahren, wenig mehr aus ihrer Schul- und Studienzeit und fast nichts darüber, wo und wie sie gelebt hatte, bevor sie im überschwemmten Gebiet aufgetaucht war. Genauso sparsam, wie sie mit Informationen über ihre Vergangenheit umging, war sie mit ihren Gefühlsäußerungen. Seit ihrem ersten Treffen hatte Enno ein tiefes Misstrauen in ihr gespürt, das wie eine Wunde war, die nicht richtig verheilen wollte. Er hatte das stets respektiert. Nun erkannte er, dass dieser Argwohn sie auf Distanz zu ihm gehalten hatte.
Enno blieb nichts anderes übrig, als selbst einen Schritt auf sie zu zu gehen. Vielleicht sollte er sie bei ihrem nächsten Besuch fragen, ob sie sich vorstellen konnte, mit ihm zusammenzuziehen.
Er schob sich den Rest des Proteinriegels in den Mund. Während er auf der zähen Masse herumkaute, ließ er den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es wäre schön, Chris jeden Tag um sich zu haben. Falls sie Lust haben sollte, ihre Kombüse und Koje gegen den Luxus einer Etagenwohnung einzutauschen, hätte er Platz genug.
Es konnte natürlich sein, dass sie zustimmte, aber nicht hier mit ihm wohnen wollte. Er musste sich also mit dem Gedanken auseinandersetzen, sein Zuhause eventuell aufzugeben. Ist nur eine Wohnung, korrigierte er sich – um sich gleich darauf zu fragen, ob der Ort, an dem er lebte, nicht mehr als »nur eine Wohnung« für ihn geworden war …
Als er vor vier Jahren zurück nach Ostfriesland gezogen war, hatte er gewusst, dass er sich mit der Besetzung des Hochhauses rechtlich in einer Grauzone bewegte. Er hatte jedoch seine Gründe, sich gerade hier niederzulassen, in diesem Gebäude, das dem Wasser nach wie vor standhielt. Die Nähe zu den Windparks war einer davon. Insofern scherte es Enno wenig, ob sein Handeln legal war oder nicht.
Bis zu der Reportage im Roten Kanal . Das Videoportal hatte sich auf Skandal- und Sensationsberichte über Politiker, Sportler, Spitzenmanager und Künstler spezialisiert. Es war einer der populärsten Kanäle des Landes. Ein paar Monate nach Ennos Einzug hatte ihm Warner eine Message geschickt. Sie bestand aus einem Link und einem Kommentar: »Da braut sich was zusammen.«
Der Link führte Enno zu dem Film über die »Rückkehrer«, Menschen wie ihn, die sich nach dem Anschlag in den Ruinen der überfluteten Städte ein Zuhause geschaffen hatten. Der Bericht zeichnete ihn und seine Nachbarn als Anarchisten, Schmarotzer und Kriminelle. Er basierte auf den O-Tönen zweier »Aussteiger« aus der »Besetzerszene«. Beide waren ausschließlich von hinten zu sehen, ihre Stimmen hatte man verfremdet. Im besten Fall seien die Rückkehrer, so der Tenor der Reportage, als weltfremde Spinner zu sehen, die mit der illegalen Besetzung der maroden Gebäude Kopf und Kragen riskierten. Der Beitrag war bereits von Zehntausenden aufgerufen, geteilt und gelikt worden, bevor Enno ihn das erste Mal sah.
Kurz darauf stellte ihm eine Drohne ein Schreiben aus Hannover zu. Darin wurde er aufgefordert, das besetzte Gebäude umgehend zu verlassen. Andernfalls würde geräumt werden müssen.
Wiederum ein paar Tage später tauchten in der Gegend zwei junge Frauen auf. Sie kamen aus Quakenbrück, hatten Videocams dabei und erklärten, eine Reportage drehen zu wollen – die »Story hinter der Story«. Hose habe die beiden »auf Anhieb supernett« gefunden, wusste Monika zu berichten, als Enno sie und Kalli draußen auf dem Wasser traf. Er habe die Frauen als neugierig und unvoreingenommen beschrieben. Sie wollten wohl tatsächlich herausfinden, was das für Menschen seien, die den widrigen Umständen trotzten und im überschwemmten Gebiet ausharrten.
Hose und Tine fuhren die beiden herum. Sie kannten die meisten Nachbarn und mussten diese nicht lange überreden, sich interviewen zu lassen.
»Mir gefällt die Gegend. Hat sie schon immer. Ich will hier einfach nur in Ruhe leben«, sagte eine Frau, die in Sandhorst einen Biohühnerzucht- und Legebetrieb unterhielt.
»Ich kapier nicht, was der ganze Hass soll. Wir haben niemandem was getan«, ergänzte eine etwa zwanzigjährige Punkerin, die neben ihr stand und vermutlich ihre Tochter war.
»Keiner von uns hat je behauptet, dass die Gebäude uns gehören«, empörte sich Karlheinz. Monika nahm seine Hand und beteuerte: »Wenn einer kommt und sagt, er will uns im Fährhaus nicht mehr haben, sind wir sofort weg.« Der Fischer warf einen finsteren Blick in die Kamera. »Nicht, dass wir das gerne täten«, ergänzte er brummig.
Am Ende der Interviews stellten die beiden Frauen allen dieselben Fragen: »Warum sind Sie nach Ostfriesland zurückgekehrt? Und warum wollen Sie unbedingt hierbleiben?«
Warner hatte eigens ein dunkelrotes Jackett angezogen und den Pferdeschwanz unter dem Kragen verschwinden lassen. Vor der Kamera gab sich der Hacker betont seriös. Er lobte das Klima, die gute Luft und die Ruhe, die er bräuchte, um seiner anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit als IT-Sicherheitsberater nachgehen zu können.
Ein perfekter Auftritt, dachte Enno, als er den Film sah. Es war Warner gelungen, seinen Sarkasmus weit genug zu zügeln, dass keiner merkte, wie lächerlich er die ganze Situation fand.
»Mein Name ist Tammen, Holger Tammen«, gab Hose zu Protokoll. Das hatte er bestimmt schon immer mal sagen wollen. »Ich komme aus Norden. Meine Familie stammt aus der Gegend, so wie die meisten, die hier leben. Ich finde es schön, dass meine Freunde und Bekannten wieder da sind. Wär echt schade, wenn sie gehen müssten.«
Auch andere Leute aus ihrem Umfeld begründeten die Entscheidung, in Ostfriesland zu bleiben, mit ihrer Verbundenheit der alten Heimat, den Freunden und der Familie gegenüber. Die meisten konnten zudem auf eine mehr oder weniger einträgliche Arbeit verweisen, was die Reportage im Roten Kanal Lügen strafte. »Wir sind ganz normale Leute. Wir zahlen Steuern wie ganz normale Leute«, betonte zum Beispiel Monika, die angab, zusammen mit ihrem Freund im Fischereigewerbe tätig zu sein.
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