»Ich kenne ihn aus der Schule, hatte aber nie viel Kontakt. Seine Eltern besaßen in Norden ein Hotel. Am Schluss war das mehr so eine Pension. Eine Flüchtlingsunterkunft.«
»Und was treibt der da drüben in seinem Leuchtturm? Ich meine: Arbeitet er irgendwas?«
»Für eine Firma in Hannover, soweit ich weiß«, antwortete Enno. »Security, Programmieren, Informationsbeschaffung.« Alles Dinge, von denen er nicht viel verstand. »Er nennt sich ›IT-Sicherheitsberater‹, hat sich auch mal als ›Cybercowboy‹ bezeichnet.«
»Ein Hacker?«
Piets Gesichtsausdruck blieb neutral. Enno meinte jedoch, in seinen Augen ein Aufflackern bemerkt zu haben.
»Nützlich, so jemanden zu kennen. Gefährlich, wenn man ihn sich zum Feind macht«, murmelte der alte Mann.
Enno sah ihn erstaunt an. Er machte jedoch keine Anstalten, diesen Gedanken weiter zu erläutern.
3·Aktion nicht ausführbar
»Ich fass es nicht! Du bist und bleibst ein Arschloch!«, schimpfte Marlies und trennte die Verbindung.
Adrian hatte gerade zu einer Erwiderung angesetzt, als die 3-D-Projektion ihrer Augen unvermittelt erlosch. Er starrte mit offenem Mund auf den PUC an seinem linken Unterarm. Er konnte es nicht fassen, dass Marlies einfach abgeschaltet hatte. Schon wieder! Er hieb mit der Faust auf den Tisch. Er hasste es, wenn sie das tat. Wenn sie das letzte Wort behielt. Und überhaupt, dachte er, was fiel ihr eigentlich ein, ihn als »Arschloch« zu beschimpfen?
Dann erinnerte er sich, was man ihm nach jedem Gespräch mit Marlies zu tun empfohlen hatte. »PUC, letzten Kontakt orten«, wies er das Gerät an.
»Aktion nicht ausführbar«, teilte ihm die heisere Frauenstimme mit, die er für den Privatmodus gewählt hatte.
Natürlich, überlegte er, dazu war Marlies zu klug. Er versuchte jetzt seit sechs Jahren, sie zu finden, und es gelang ihr nach wie vor, sich zu verbergen.
»Stell wenigstens die Verbindung wieder her«, blaffte er den Communicator an.
»Aktion nicht ausführbar.«
Das frustrierte Adrian. Er erhob sich aus dem Drehsessel und durchmaß das Loft mit großen Schritten. An der Hausbar zögerte er kurz, bevor er nach dem 2030er Macallan Sherry Oak griff, den ihm die Firma Novapec letzte Weihnachten geschickt hatte. Er öffnete die Flasche und goss sich ein. Mit dem Glas in der Hand stellte er sich ans Fenster und genoss den leicht fruchtigen Geschmack des Whiskeys und dessen süßen Abgang, der seinen Gaumen verwöhnte.
Adrian seufzte zufrieden. Tarik, der Chef von Novapec , wusste, was er ihm schuldete – und dass für einen seiner treuesten Kunden nur das Beste gut genug war.
Umgekehrt verdankte er dem Mann ebenfalls viel. Adrian wandte sich jedes Mal an ihn, wenn sich ein Problem auftat, das er mit legalen Mitteln nicht lösen konnte.
Offiziell trat Tarik als deutscher Geschäftsführer der Beteiligungsgesellschaft auf. Außerdem leitete er eine bekannte Wäschereikette. Hinter der Fassade des erfolgreichen Geschäftsmannes war er der Kopf eines weitverzweigten Clans. Er selbst bevorzugte das Wort »Familie«, manchmal sprach er sogar von seinem »Stamm«. Auch wenn Adrian es nicht so recht glauben konnte, war die ganze Sippe wohl tatsächlich miteinander verwandt. Tarik hatte für alles »seine Leute«: von hirnlosen Schlägern über trickreiche Anlageberater bis zu IT-Fachleuten jeglicher Couleur. Wo er gerade diese Spezialisten auftrieb, blieb Adrian ein Rätsel. Das war ihm aber egal, solange sie seine Aufträge präzise ausführten.
Einzig die Sache mit Marlies und ihrem Vater war total schiefgelaufen. Dass die beiden abgetaucht und nicht auffindbar waren, stellte für Tarik einen peinlichen Fehlschlag dar. Adrian hatte diese unerfreuliche Geschichte fast um seinen Aufstieg in die Welt der Reichen und Mächtigen gebracht. Noch dazu empfand er sie als persönliche Niederlage – seine erste und einzige, und darum umso ärgerlicher.
Er stellte das Glas auf die Fensterbank und ballte unwillkürlich die Fäuste. Er hatte Marlies unterschätzt. Sie hatte ihn und Tariks Leute getäuscht. Dieses raffinierte Luder!
»Was wollt ihr einmal werden, wenn ihr die Schule abgeschlossen habt?«, hatte Frau Grieswald, die Wirtschaftslehrerin, sie in der zehnten Klasse gefragt.
»Manager«, war Adrians Antwort gewesen.
Damit hatte er nicht irgendeinen untergeordneten »Dödeljob« im Verkauf, Marketing oder Personalwesen gemeint, sondern eine Stellung ganz oben, an der Spitze der Nahrungskette. Um in dieser Sache kein Missverständnis aufkommen zu lassen, hatte er seine Antwort mit »mindestens Direktor« präzisiert.
Nun war er als Jugendlicher zwar mit einer raschen Auffassungsgabe gesegnet, aber nie besonders fleißig gewesen. Seine schulischen Leistungen lagen damals im unteren Mittelfeld. Dass ihm keiner zutraute, sein angegebenes Karriereziel zu erreichen, wurde ihm, wenn nicht durch Frau Grieswalds süffisant gespitzte Lippen, spätestens durch das Gelächter der Klasse bewusst. Einer seiner Mitschüler, eine Handballkanone namens Claas Arens, setzte sogar noch eins drauf: »Direktor bei der Müllabfuhr«, pflegte er Adrian fortan aufzuziehen, wann immer sie sich auf dem Schulgelände begegneten.
Adrian hatte sich davon nie beirren lassen. Nichts konnte ihn von seinem Vorhaben abbringen, es möglichst schnell zu Geld zu bringen – oder, wie er es als Jugendlicher ausgedrückt hatte, »stinkreich« zu werden.
Eines war ihm schon früh klar geworden: Durch normale Arbeit und Fleiß würde er sein Ziel niemals erreichen. Also galt es, andere Wege zu finden. Zunächst war es notwendig, sich in der Schule weiter durchzumogeln. Das gelang ihm ohne Schwierigkeiten. Seine Noten waren gut genug, in Bremen ein Wirtschaftsstudium aufzunehmen. Mit etwas mehr Aufwand schaffte er es auch an der Universität, Klausuren und Prüfungen zu bestehen, für die er kaum gelernt hatte. Es gab nur eine echte Herausforderung: Er wollte seinen Lebensunterhalt bestreiten, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Adrian hatte schon eine Idee entwickelt, wie dieses Problem zu lösen wäre. Er brauchte aber Hilfe von außen, um seinen Plan in die Tat umsetzen zu können.
Er hatte Tarik seit dem Abitur nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte dieser ihn nicht gleich erkannt.
Seine Begrüßung war ruppig gewesen: »Was willst du hier?«
Adrian hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Debatte mit dem Türsteher, eine Leibesvisitation und eine Auseinandersetzung mit Tariks Leibwächtern hinter sich. Durch weitschweifige Erklärungen und stures Beharren war er bis in den privaten Bereich des Nachtclubs, bis zum Anführer des Bremer Clans vorgedrungen. Nachdem er so weit gekommen war, konnte ihn der Tonfall des Mannes nicht mehr abschrecken.
»Erinnerst du dich an mich? Ich bin Adrian. Wir waren zusammen in der Schule.«
»Bin noch zu jung für Alzheimer«, erwiderte Tarik. »Ich hab gefragt, was du von mir willst.«
»Ich habe einen Plan, der uns beiden eine Menge Geld einbringen kann. Dafür brauche ich deine Unterstützung«, gestand Adrian ohne Umschweife ein. »Ich dachte, das würde dich interessieren.«
Tarik lachte auf. »Ich hab schon mehr Geld, als ich ausgeben kann.«
Adrian glaubte ihm nicht. Da war etwas in den Augen des Clanführers, das ihn mit Zuversicht erfüllte. »Ich finde, man kann nie genug haben«, sagte er.
Tarik schob die Unterlippe vor und schnaufte. Er lud Adrian mit einer knappen Geste ein, sich zu ihm zu setzen.
Das Eis war gebrochen. Schon bald plauderten sie miteinander wie alte Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten. Sie redeten über die Schulzeit, das Leben in Bremen, die Politik, Fußball und Frauen. Es schien Tarik zu freuen, sich mit jemandem auszutauschen, der nicht zum Kreis »seiner Leute« gehörte.
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