Ich bemerkte, als Lidenbrock vom Löwen erzählte, das sie reagierte – ich kann diese Reaktion nicht in Worte fassen, aber ich deutete sie so, das sie den Löwen nicht gerne erschossen hatte.
„Haben Sie wieder Ihre Zeit in der Bibliothek verbracht, meine Liebe?“ Sie nickte nur. „Mich beeindruckt, dass Sie sich dort so wohlfühlen. Selbst ich konnte in den Universitätsbüchereien nur solange verweilen, bis das richtige Buch gefunden hatte.“
Nach dem Essen zogen sich Professor Lidenbrock und Paganel in die Sesselecke zurück. Paganel zündete sich sofort wieder seine Pfeife an. Mademoiselle Van Holmes verließ die Messe. Ich verabschiedete mich und wollte sie einholen, schließlich war sie nur wenige Sekunden zuvor durch die Tür verschwunden, doch als ich den Gang betrat war nichts mehr von ihr zu sehen.
Kapitel 5 - Das Schiff ohne Namen
Zurück in Kabine 274, traf ich einen Matrosen an. Er informierte mich, dass weitere Kleidung für mich in der Kabine bereit lag, damit ich etwas zum Wechseln besaß. Weiter händige er mir unbeschriebene in Leder gebundene Tagebücher im Auftrag von Lidenbrock aus. Eines steckte ich sogleich in die Tasche, damit ich überall Notizen machen konnte.
Mit der Idee, wie ich die ersten weißen Seiten füllen könnte, beschloss ich das Schiff zu erkunden. So schritt ich den Korridor vor mir entlang, bei der nächsten Treppe ging ich ein Deck hinauf und weiter bis ich plötzlich auf der Brücke stand.
Sie maß gut fünf mal fünf Meter und hatte große Fenster zu allen Seiten. Richtung Bug befand sich mittig ein großes Steuerrad, an dem der Steuermann seine Pflicht erfüllte. Neben ihm waren zahlreiche lange Hebel im Boden eingelassen, sowie der Kompass auf einer Metallsäule. Links und rechts an den Wänden abseits des Bugfensters prangten Messanzeigen, wovon ich nur einige wirklich erkannte. Neben einem Barometer und Thermometer gab es viele runde Kästen mit unterschiedlichen Skalen, sei es farbig oder mit Zahlen, die über einen kleinen beweglichen Pfeil die jeweiligen Werte anzeigten. In der Mitte der Brücke stand ein Schrank in Tischhöhe auf dem Seekarten und Messinstrumente, also Sextant, Stechzirkel, Kursdreiecke und Bleistifte lagen. Eingeklemmt in einer Schranktür bewies eine zusammengerollte Seekarte, war sich im inneren befand. Zwei seltsame Objekte auf der Brücke fielen mir sogleich auf. Da war ein weiteres Metallpodest - Kugelförmig an der Oberseite und ein kleinerer Schranktisch zum Heckfenster hin. Beides war abgedeckt und mit Seilen fixiert. Neben mir, dem Steuermann und einem weiteren Matrosen, war auch Grant anwesend. Der Matrose und er hielten ein Fernrohr in den Händen, doch eines für beide Augen gleichzeitig und schauten aufs Meer hinaus. Der Matrose Richtung Heck und Grant in Fahrtrichtung. Als Grant mich wahrnahm setzte er das Fernrohr ab und lächelte.
„Ah, Mister Verne. Schön Sie zu sehen. Ich hoffe es geht Ihnen besser.“
„Mit jedem Tag. Dieses Schiff ist eine einzige Faszination, egal wohin ich schaue, tauchen Fragen in mir auf.“
„Kann ich verstehen. … Nun ich habe die Erlaubnis vom Kapitän erhalten, Ihnen diese Fragen zu beantworten.“
„Erst so geheimnisvoll und dann doch so freigiebig?“
„Bitte verstehen Sie uns. Wir mussten uns erst einmal ein Bild von Ihnen machen. Doch der Kapitän hat keine Bedenken, so dass Sie eine gewisse Freiheit haben.“
„Ich würde gerne den Kapitän kennenlernen, wenn er mir schon so entgegenkommt.“
Grant setzte ein neues Lächeln auf ehe er antwortete. „Das wird leider unmöglich sein. Alle Fragen an den Kapitän können Sie mir stellen.“
„Ich verstehe schon.“ Erwiderte ich und wusste, dass er keine Frage rundum den Kapitän beantworten würde. Ich musste dies strategischer angehen und Geduld haben, weshalb ich mich auf andere Fragen konzentrierte. „Was ist das für ein Fernrohr in ihren Händen? So eines habe ich noch nie gesehen.“
„Bitte. Versuchen Sie es selbst.“ Grant reichte mir das Doppelfernrohr. „Über das kleine Rädchen zwischen den Röhren können Sie die Schärfe justieren.“
Sogleich hielt ich mir das Fernrohr vor die Augen und war hin und weg. Es war nicht so, wie bei den Normalen, das ein Auge zugekniffen wurde, sondern es konnte ohne Probleme mit beiden Augen in die Ferne geblickt werden.
„Beeindruckend. … Wer hat es erfunden?“
„Das kann ich Ihnen verraten. Dieses Bikular, wie wir es nennen, hat ein gewisser Carl Zeis aus Deutschland erfunden; ein Freund unseres Kapitäns. Es wurde noch nicht der Öffentlichkeit präsentiert.“
„Zeis, der Name sagt mir etwas. Ein kleines Unternehmen das Mikroskope herstellt. An der Pariser Universität habe damit gearbeitet.“
„Richtig. Dieses Bikular funktioniert nach dem gleichen Prinzip, nur halt in die andere Richtung. Überhaupt sind hier an Bord zahlreiche einzigartige experimentelle Basteleien von Zeis eingebaut worden, sowie seine Mikroskope in unserem Labor.“
„Was ist dieses Schiff eigentlich? Ich kann es nicht einordnen.“
„Da helfe ich Ihnen in gewissem Maße gerne. Kommen mit aufs Aussendeck. … Santiago, Sie haben das Kommando.“
„Ai.“ Rief der zweite Matrose mit dem Bikular. Er war vermutlich Spanier oder Südamerikaner, hatte dunklere Haut, kurze pechschwarze Haare und war recht schlank. In seiner Stimme klang ein Akzent mit.
Grant ging zu einem an der Wand angebrachtem Kleiderhaken mit Pelzjacken, nahm zwei ab und warf mir eine zu.
„Ziehen Sie sie über, wenn Sie sich nichts abfrieren wollen.“
Mit den Jacken übergezogen, betraten wir das Aussendeck und wurden umgehend vom eiskalten Nordwind begrüßt.
„Das Schiff ist vollends aus Metall gebaut. Zweihundert Meter lang und zwanzig breit. Optisch sehen wir, wie ein Dreimaster aus und zurzeit benutzen wir die Segel, können aber auch auf ein einzigartiges Schraubenantriebssystem zurückgreifen, was uns schneller, unabhängiger und kontrollierter macht. Das Segelsystem ist automatisiert und kann ohne Matrosen eingeholt oder gesetzt werden. Auf Wunsch können wir die Masten nach hinten zusammenklappen.“ Grant zog eine daumendicke Zigarre aus der Brusttasche, biss ein Ende ab und spuckte den Abbiss über Bord. Mit ihr zwischen den Zähnen sprach er weiter und suchte ein Zündholz. „Wie Sie sehen, ist die Brücke am höchsten und in der Schiffsmitte angeordnet. Zum Heck hin liegen die Messe und das Observatorium. Auf dem untersten Aussendeck am Heck haben wir Beiboote untergebracht.“ Zu meinem erstaunen zog er ein kleines handliches viereckiges Metallobjekt aus Silber anstatt eines Zündholzes hervor und klappte es wie eine Schatulle auf. Er zog an einem kleinen Schlagbolzen, der einen Funken schlug und eine kleine Lunte im Inneren damit zu einer Flamme entzündete. Die Flamme hielt er vor die Zigarre und zog paffend daran, um dem Tabak eine richtige Glut zu geben. Dann klappte er das Metallobjekt zusammen und erlöschte so die Flamme. Grant bemerkte meine verwunderten Blicke. „Im Inneren ist eine in Petroleum getränkte Lunte. Funktioniert wie eine entsprechende Lampe, nur in Taschenform. Fragen Sie mich nicht, wer es erfunden hat.“ Sagte er lächelnd und ich winkte ab. „Ich weiß es nämlich nicht. Hat mir der Kapitän geschenkt.“
„Also Sie kennen unseren Kapitän?“
Grant verzog geheimnisvoll einen Mundwinkel.
„Vielleicht. … Aber zurück zum Schiff. Unser Hauptladeraum befindet sich im Bug, der … das können Sie nicht von hier aus sehen, wie ein Froschmaul aussieht und von vorne geöffnet werden kann. Oft benutzen wir das ‚Maul’ als Landesteg. Es können maximal dreihundert Personen untergebracht werden, doch unsere 100 Mann Besatzung reichen aus, um für alles zu sorgen.“
„Warum so viel Prunk im Inneren?“
„Prunk?“ Grant blickte mich fragend an.
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