„Noch halte ich mich als Friseuse über Wasser, aber mit der nächsten Platte habe ich einen Fuß in der Tür.“ Da singe sie nämlich nicht nur im Chor für andere, wie bisher, sondern ein Duett mit „ ...nun halt dich fest: mit Bata Ilic!“ Der sei auch bloß ein Schnulzenheini, verhelfe ihr aber zu größerer Bekanntheit. Danach wäre es ein Leichtes, mit eigenen Liedern zu reüssieren. Je verbissener sie ihre künftigen Erfolge beschwor, desto mehr zweifelte ich daran und heuchelte das Gegenteil. So geriet alles mehr und mehr zur Pose und dazu gehörte am Ende auch Sex: wir waren es uns - oder vielmehr der Situation schuldig, Sex zu haben. Das wusste ich, obwohl ich mit meinen 19 Jahren noch keinen Sex gehabt hatte. Gerade deshalb musste ich jetzt! 19 Jahre alt und noch keinen Sex gehabt - die Freunde hatten das geahnt und begonnen, Witze darüber zu machen: „Auf dem Land lässt man sich eben mehr Zeit!“
Wann, wenn nicht jetzt?
Da war eine schöne, junge und willige Frau, die, was zwar unwahrscheinlich, aber doch möglich war, bald berühmt sein könnte - wenn ich mir eine solche Chance entgehen ließ, war mir nicht mehr zu helfen.
Und die junge Frau?
Vielleicht fühlte sie sich als Künstlerin noch dem „Sex-Drugs-And-Rock-n-Roll-Image“ verpflichtet, deren Sturmausläufer noch durch die siebziger Jahre wirbelten. Wahrscheinlich aber sah sie in dem schwerblütigen Jungen, der ich war, tatsächlich einen intellektuellen oder emotionalen Input für sich und ihre Karriere. So geriet mir das „erste Mal“ zur trotzigen Pflichtveranstaltung. Selbst eine schöne Frau wie Daphne konnte nach einer solchen Nacht nicht mehr duften wie eine Rose. Wir ergaben eine Mischung aus Schweiß, Parfum und Rasierwasser, Schminke, Tabak und Sodbrennen. Wir hätten vorher duschen sollen, stattdessen spielten wir uns gieriges Begehren vor, das keinen Aufschub duldete. Während wir uns die Kleider von den Leibern schälten, versuchten unsere Lippen sich immer wieder zu vereinen, wie zwei irre Schmetterlinge. Endlich nackt, umschlangen und küssten wir uns. Alkohol, Nikotin und Magensäure - der Geschmack einer langen Nacht lag auf ihrer Zunge, die meine, die genauso schmeckte, zum Tanz aufforderte. Wenn sie so singt, wie sie riecht und küsst, dann Karriere ade, dachte ich. Ich hob sie hoch, sie schlang ihre Beine um mich, so trug ich sie zum Bett. Wir ließen uns fallen und obwohl ich achtzugeben versuchte, prallten unsere Körper unsanft aufeinander. Schmerz gehört zur Leidenschaft, auch wenn er durch Ungeschick entsteht. Daphne brachte sich in Stellung und ich rutschte in sie. Etwa 45 Sekunden lang rammelte ich wie wild, dann drückte Daphne mit ihren Fersen meinen Hintern gegen sich. Nun gab es kein Halten mehr, mein Erstes Mal ging seinem überstürzten Höhepunkt entgegen.
„Bin ich deine Erste?“
„Ja...“ Eine weiterführende Erklärung küsste sie weg, dann sagte sie:
„Du bist süß?“ Nun wollte sie kuscheln und mich vielleicht auf eine zweite Runde vorbereiten. Mittlerweile aber war mir ihr Geruch unerträglich geworden.
„Darf ich bei dir duschen?“
„Da vorne links.“
Als ich aus der Dusche stieg, ging Daphne hinein.
„Schade, dass ich so ein kleines Bad habe, sonst hätte wir zusammen duschen können.“
„Die berühmte Sängerin Daphne wird bald ein Bad haben, größer als ein Wohnzimmer.“ Daphne lachte kokett.
Ich zog mich an und ließ meine Blicke quer durch die Wohnung schweifen. Auf dem Küchentisch lag ein Brief, an Gerti Krautegger gerichtet, von Hans und Frieda Krautegger, Burghausen. Ich lächelte. Die Gerti aus Burghausen hatte sich ihren bayrischen Dialekt abgewöhnt, wie so viele, die von München aus eine deutschlandweite oder gar weltweite Karriere starten wollten. Auch schaffte man das nicht als Gerti Krautegger in einem Jahrzehnt, das sich urban, anglophil und weltoffen gab und alles Herkömmliche und Ländliche verachtete.
Daphne - der Traum von Gerti Krautegger. Gerti war 23, wie sie mir erzählt hatte, und damit vier Jahre älter als ich. Urplötzlich hatte ich Angst vor dieser Frau. Wer in diesem Alter solche Träume hat, ist schwer berechenbar! Hastig blickte ich mich um, sah auf einem Regalbrett überm Küchentisch einen Notizblock und einen Stift.
„Es war wunderschön mit dir, Daphne, ich wünsche dir viel Erfolg!“
Für den Namen blieb keine Zeit mehr, im Bad verstummte schon das Rauschen des Wassers und mit ihm Daphnes Lied. Ich schlüpfte durch die Tür und zog sie leise zu. Bis zur ersten Straßenecke lief ich wie ein Irrer. Danach fühlte ich mich richtig mies. War das ein würdiger Abgang? Nur weil sie schlecht roch, oder weil sie noch träumte? Sollte ich zurückgehen, mich entschuldigen und richtig verabschieden. Dazu hatte ich weder Kraft, noch Mut.
„So what, that’s live“ redete ich mir ein, „schließlich wollten wir beide ein Abenteuer.“ Ein Steinchen im Leben, das einmal wie ein glitzerndes Mosaik vor, nein, hinter uns liegen wird.
Dann stellte ich mit Entsetzen fest, dass ich mich verlaufen hatte. Ich wusste zwar den Namen der Straße, in der Heinz wohnte, traf aber niemand, den ich hätte fragen können. Mehr als zwei Stunden irrte ich durch die Stadt, ehe ich auf eine Straße traf, die mir bekannt vorkam. Ja, hier waren wir schon einmal durchgefahren. Doch zu Fuß und hundemüde schienen die Wege endlos zu sein. Nach geschlagenen drei Stunden Fußmarsch kam ich total erschöpft an. Heinz und Harry saßen gerade beim Frühstück. Sie grinsten mich an:
„Na, wie war sie?“
„Daphne? ein Traum!“
Dann sangen die Esel aus vollem Hals...
„...und als ein Mannnnn sah er die Sonne aufgeheeeen.“
„Ja“ unterbrach ich sie, „unsere Väter mussten noch in den Krieg ziehen, um Männer zu werden, uns reicht es, zu vögeln. Wie haben wir es doch gut.“
Sie lachten, sie verstanden nicht, also sagte ich:
„Leben zerstören oder Leben erzeugen - unter dem wollen wir keine Männer sein.“
Harry versuchte, wie immer, mich aufzuziehen mit meinem Hang zur Nachdenklichkeit:
„Wunderbar, daraus kannst du gleich einen Text für deine Nachtigall machen.“
„Gute Idee“ sagte ich und reimte los:
„Männer zeugen, Männer töten, Männer spielen gerne Gott...“
Die verdutzten Blicke meiner Freunde ließen mich sofort wieder innehalten:
„Das war mehr als ein Landei in einer Nacht verkraften kann“ meinte Heinz mit gespieltem Mitleid und Harry sagte:
„Hau dich erst mal aufs Ohr und ruh dich aus, das gibt sich wieder.“
‚Siehst du Daphne‘, dachte ich, unsere Lieder werden nicht viele offene Ohren finden‘.
Heraklit sagt, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Alles verändert sich ständig, nichts bleibt, wie es ist. Beim nächsten Mal wird der Fluss schon anders sein. Man kann also nicht zurückkehren – nirgendwo hin!
Auch ihr Dorf war nicht mehr so, wie sie es einst verlassen hatte. Einige neue Häuser, einige alte renoviert. Stellenweise auch fortgeschrittener Verfall, wo zu ihrer Zeit noch Leben war. Vor einer Bruchbude stand ein Schild: „Der Schandfleck muss weg!“ Unterschrieben von einer „Initiative Dorf-erneuerung“. Sie traf auf Menschen, die sie nicht kannte: einige Neubürger; erwachsen gewordene Kinder, nicht wieder zu erkennen. Es war nicht mehr „ihr“ Dorf und das war gut so! Über die Verstorbenen war sie besser informiert. Ihre Mutter war nicht sehr schreibgewandt aber hin und wieder brachte sie es zu doch zu einem Brief. Der Mutter waren die Verän-derungen nicht so aufgefallen oder nicht wichtig genug, um der Tochter in der fernen Stadt mitgeteilt zu werden, und so dominierten als Neuigkeiten immer die Todesfälle. Auch am Telefon,
- Stell dir vor, unser Nachbar, der Bertel – tot! Erinnerst du dich noch, wie er dir immer Schokolade gab!
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