In so einer Pause höre ich unten am Vorplatz ein Knirschen im Kies. Bist du es? Das Klappern des Briefkastens verrät die Zeitungsfrau. Ich sehe sie wieder auf ihr Fahrrad steigen und zielstrebig die Nachbarhäuser ansteuern. Auch sie gönnt sich einen Hauch von Samstag: sie ist später als sonst, aber für mich früh genug. „Frühstück mit Zeitung, meinetwegen!“ sagst du immer, „Aber bitte nicht am Wochenende.“ Also gut, dann lasse ich die Welt mit ihren Neuigkeiten eben noch außen vor. Aber wo bleibst du nur? Seit fünf Uhr morgens sorgst du dafür, dass die Leute auch samstags ihre Post bekommen. Wie viele machst du glücklich, Ameise, mit deiner Arbeit? Mit einem Liebesbrief vielleicht, rechtzeitig zum Wochenende? Und wie vielen verdirbst du es mit einer schlechten Nachricht? Schreibt man überhaupt noch Liebesbriefe, heute? Gibt es noch Träumer, die für ihre edelsten Gefühle noch die erlesensten Worte suchen und diese auf blendend weißes Papier malen? Oder wird auch das höchste der Gefühle nur noch gesimst und gemailt, getwittert oder gepostet? Die schlechten Nachrichten jedenfalls kommen immer noch per Post. Ach, was schon alles durch deine Hände ging! Du aber hast kein Auge für Liebes- oder Urlaubsgrüße, Glückwünsche, Trauerkarten. Tod und Leben, Freud und Leid haben unter deinen flinken Händen nur eine Adresse, keine Bedeutung. Tausende von Namen verlieren sich in hunderten von Straßen, Gassen und Plätzen. Im rasenden Verteiltakt gewinnt vor deinen Augen kein Name menschliche Gestalt. Eineinhalb Sekunden pro Brief sind dir vorgegeben. 2500 Namen pro Stunde. Im Schwindel erregenden Tempo unserer Zeit verliert sich die Bindung zum Leben. Erst die „Feierabend-Zigarette“ holt euch Ameisen aus der robotronen Arbeit wieder ins Menschsein zurück.
Wo bleibst du nur? Steckst du im Verkehr, in Besorgungen am Markt? Samstags lassen sich die Leute Zeit, sie verstehen deine Eile nicht. Von der Arbeit in die Stadt - das heißt für dich: von tausenden Namen ohne Gestalt zu tausenden Gestalten ohne Namen. Dir schwirrt der Kopf, du bist müde, sehnst dich nach Hause. »Nur nicht drängeln, gute Frau! «, Die Ameise hinterm Ladentisch versteht deine Eile nicht. Ich hab’ Geduld. Ich werde inzwischen den Frühstückstisch decken, draußen auf dem Balkon, im Schatten des Fliederbusches. Dann warte ich im Zimmer auf dich, aus dem Fenster blickend. Vielleicht hat der fleißige Nachbar seinen Rasen bald kurzgeschoren. Vielleicht kann ich mir dann noch einmal die Ives’sche Stille zurückholen. Bis du auf den Hof fährst, bis der unter den Reifen knirschende Kies den durchsichtigen Ton überlagert. Willkommen an der Oberfläche, Schildkröte!
Hafis und die kopflose Liebe
Er kannte Gottes Willen, denn er kannte den Koran. Er konnte nicht lesen, aber er hatte den Koran im Kopf. Wenigstens die wichtigsten Stellen. Und so wusste er gewiss, dass Sünde war, was die Beiden aus seiner Nachbarschaft hier praktizierten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was die machten, wenn sie alleine waren, es reichte zu sehen, was sie sich in aller Öffentlichkeit trauten. Sie gingen zusammen durch die Straßen, lachten und schmachteten sich an. Fühlten sie sich unbeobachtet, hielten sie gar ihre Hände! Das Kopftuch des Mädchens rutschte ständig nach hinten, das war doch pure Koketterie! Wie sie das Tuch mit ihren schlanken Fingern wieder zur Stirn zog, um es kurz darauf wieder nach hinten rutschen zu lassen! Wie sie das anstellte, wusste der Satan.
Wer Gottes Willen missachtet sieht, und nicht einschreitet, sündigt selbst. Deshalb sprach er sie an. Sie lachten ihn aus. Nein, der Junge lachte ihn aus, das Mädchen sah ihn bloß an. Mit diesem Blick, wie nur Frauen und Schlangen blicken können. Fünf Nächte lang musste er sich gegen diesen Blick wehren. Fünf Nächte lang flüsterte der Satan ihm zu, er solle ruhig Hand an sich legen, wo doch alles so schön bereit stand. Fünf Tage lang wollte ihm das Herz stocken, wenn er sie sah. Fünf Tage und Nächte lang kämpfte er allein gegen den Satan. Dann sprach er mit dem Sheikh darüber. Der Sheikh lobte ihn und versprach Hilfe.
Zwei Tage später waren die zwei Verliebten verschwunden.
Der Sheikh hatte mit den Vätern des Paares gesprochen, die ihnen ihre Liebe untersagten.
Es hieß, man habe sie getrennt. Es ging aber auch das Gerücht, sie wären zusammen weggelaufen.
Allah lenkt uns weise, dachte Hafis, als er wenig später die Ausreißer in Laschkarga wieder sah: unsicher, wie Neulinge aus der Provinz in der Stadt eben auftreten. In ihrer Unsicherheit noch ganz mit sich selbst beschäftigt, hatten sie ihren einstigen Nachbarn noch nicht bemerkt. Der glaubte nicht an Zufälle, der war sich jetzt sicher, einen göttlichen Auftrag erhalten zu haben. Er folgte ihnen. Sie waren vorsichtig geworden und trennten sich, gingen in angemessenem Abstand stadtauswärts. In einem heruntergekommenen Viertel hatten sie ein Liebesnest gefunden. Er beobachtete sie. Nie betraten und verließen sie gemeinsam das Haus. Das erleichterte einiges. Am Abend trat der Junge auf die Straße, vielleicht, um Besorgungen zu machen. Er folgte ihm. Allah lenkte den jungen Mann in eine menschenleere Gasse, er musste jetzt handeln, jetzt! Er lief ihm hinterher, schlich sich heran und schlug dem Sünder einen faustgroßen Stein auf den Hinterkopf. Das kurze Gefühl des Triumphs wich der Sorge, von jemandem gesehen zu werden. Er zog den Bewusstlosen durch ein halbverrostetes Tor und fand sich mit ihm, ja, auf einem Friedhof wieder - alles lief nach Gottes Plan! Was war nun zu tun? Da lag ein Sünder, der, anstatt auf Allah und die Vernunft zu hören, lieber auf die Stimme seines Körpers gehört hatte. In seinem heiligen Zorn trennte er also dem Unseligen den Kopf vom Körper. Nun konnte die Sünderseele entweichen, Gott allein wusste, wie mir ihr zu verfahren war. Dann ging er entschlossen auf Teil zwei seiner Aufgabe zu. Er ging in das Haus zu dem Mädchen und sagte: „Mit deinem Freund ist was passiert, komm mit!“ In panischer Angst folgte sie ihm. Als sie den enthaupteten Geliebten sah, brach sie ohnmächtig zusammen. Nun war es ein Leichtes, ihrer kopflosen Beziehung ein symbolträchtiges Ende zu setzen. Allahu akhbar!
I
Der Mann, der sich vor mir im Spiegel rasiert, ist mir bei aller Ähnlichkeit merkwürdig fremd. Halb neun, denke ich, und die anderen arbeiten längst. Der Typ im Spiegel schabt eifrig Barthaare aus meinem Gesicht. Ich spüle das Rasiermesser unterm Wasserstrahl ab. Mein Gegenüber langweilt mich, ich wende mich ab, schaue durch das offene Fenster. An den Rauchwolken erkenne ich, dass Freitag ist. Freitags, und nur freitags, dürfen in unserem Dorf Gartenabfälle verbrannt werden. Deshalb werden freitags in allen Gärten Abfälle verbrannt, gnadenlos!
Abfälle? Zum Problem gewordene, organische Materie.
Mein Alter Ego sieht mich fragend an: Ob es denn sein muss, diese Stinkerei hier, ob denn Verbrennung als Entsorgung pflanzlicher Abfälle noch zeitgemäß sei?
Zeitgemäß, denke ich und schnuppere. Meine Nase lässt sich sofort verführen, der Geruch plaudert von früher, vom elterlichen Garten im Herbst; vom Feuer, um das wir Kinder mit glühenden Wangen saßen. Aus feuchten Kartoffelstauden wolkte schwarzgrauer Rauch, ein Spielzeug des Windes. In der Asche brieten wir frische Kartoffeln, spießten die verkohlten Knollen auf Holzstöckchen und verbrannten uns Finger und Lippen daran. Ich spür heute noch den Geschmack im Mund, sobald Rauch mir in die Nase steigt. – Zeitgemäß!
Meine Nachbarin, das sehe ich, ist ärgerlich, weil Flugasche ihre Wäsche versaut. Am Nachmittag wird sie selber Feuer machen.
Mein Spiegelbild will endlich fertig rasiert werden. Wozu diese Hast, frage ich, der Tag ist ohnehin gelaufen. Guck nicht so verständnislos!
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