„Hast du etwas schlimmes geträumt?“, fragte sie mich, während ich den letzten Bissen Toast nahm.
„Ich hatte einen eigenartigen Traum, aber das Ende war schön.“
„Du hast meinen Namen im Schlaf mehrmals geflüstert“, gestand Grandma und sah dabei fast etwas schüchtern aus.
„Keine Sorge, es geht mir gut“, behauptete ich.
„Wirklich? Ich würde es verstehen, wenn du nach wie vor Angst vor den Dingen hast, die ich dir gestern gestanden habe.“
„Nein, keine Angst, ganz sicher.“ Und das war die Wahrheit. Vielleicht lag es an meinem Traum, aber so lange ich bei Grandma sein konnte, fühlte ich mich geborgen.
„Du hast gesagt, du bringst mir bei, wie ich meine Fähigkeit kontrollieren kann“, erinnerte ich Viviane und sie schien über meinen Tatendrang sichtlich überrascht.
„Das werde ich, Colby“, bestätigte sie ihr Versprechen.
„Dann lass uns gleich damit beginnen. Befindet sich hier in der Nähe irgendwo ein Geist?“
Grandmas Blick wanderte für einen Moment ins Wohnzimmer. Dann schlug sie mir vor, dort schon einmal Platz zu nehmen. Da sie meine Frage nicht direkt beantwortet hatte, rechnete ich fest damit, dass sich in ihrem Haus tatsächlich ein Geist befand und sie seine Anwesenheit spüren konnte.
Ich musste eine ganze Weile warten, bis Viviane endlich zu mir kam. Ich hätte zu gerne erfahren, für was sie so lange gebraucht hatte. Unter ihrem Arm hielt sie ein Bild, das sie auf den Holztisch vor uns legte. Ich erkannte es sofort, es hing sonst in meinem Zimmer und zeigte den Mann mit der Ballonmütze.
„Die ersten Tage kurz nach meiner Ankunft hatte ich das Gefühl, er würde mich beobachten“, sagte ich aufgeregt und deutete auf den Mann. Vivianes Augen weiteten sich, dann stimmte sie mir zu.
„Was du verspürt hast, war die Anwesenheit eines Verstorbenen. Die Präsenz des Geistes geht von diesem Bild aus. Ich habe es gemalt, als ich einige Wochen in der Normandie in Frankreich verbracht habe. Das ist jetzt inzwischen viele Jahre her.“
Über Grandmas Gesicht huschte ein Lächeln und ich vermutete, dass die Erinnerungen an ihre Reise sie heimsuchten.
„Weshalb ist er hier? Konntest du ihm bisher noch nicht helfen?“
Viviane sah zu Boden. „Er ist…nun…“ Ich spürte, dass Grandma damit rang, mir etwas Wichtiges zu sagen. Wieso zögerte sie?
„Er ist meinetwegen hier“, gestand sie.
In meinem Gesicht konnte Viviane die Irritation lesen, die mich beschlich.
„Hast du ihm etwas angetan?“, fragte ich vorsichtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Grandma tatsächlich irgendjemanden verletzen oder übel mitspielen würde. Und dennoch fiel mir kein anderer plausibler Grund ein.
Vivianes Augen glänzten. „Der Mann auf dem Bild…er stammt aus dem Ort, in dem wir den Wochenmarkt besucht haben. Sein Name ist Vincent. Als ich damals nach Frankreich ging…sagen wir, ich war sehr froh darüber, diese Reise unternehmen zu können. Ich habe niemandem erzählt, wohin ich genau gehe, denn ich wusste es selbst nicht einmal. Kurz nach meiner Ankunft in Frankreich hatte es mich in ein wunderschönes Fischerdorf in der Normandie verschlagen. Ich habe in einer Gaststätte mit dem Namen La sirène gearbeitet und in einem Fremdenzimmer darüber gewohnt. Die meisten Gäste waren Schiffsleute, in ihrer Art etwas rau, aber liebenswert und ehrlich. Ich habe mich sehr gut mit ihnen verstanden.
Die Abende und meine freien Tage habe ich stets in einer einsamen Bucht verbracht. Der Sand war fast schneeweiß und das Wasser schimmerte in dem wunderschönsten Blau, das ich jemals gesehen habe. Für meine Bilder gab es damals keine größere Inspiration als das Meer und die Sonnenuntergänge. Zu sehen, wie die Sonne an der scheinbaren Grenze zwischen Firmament und Ozean versank und die Wasseroberfläche und den Himmel golden und kupferrot färbte, hatte etwas magisches.
Dem Wirt der Gaststätte gefielen meine Bilder und er bot mir an, in einem Nebenzimmer, das er sonst für das Ausrichten von Feierlichkeiten der Dorfbewohner bereithielt, eine kleine Ausstellungsmöglichkeit einzurichten. Ich nahm seinen Vorschlag dankend an und kam so zu meiner – sagen wir fast meiner – ersten Galerie. Glaub mir Colby, ich war dort sehr glücklich, auch wenn es nicht mein Zuhause war und mein Herz mich jeden Tag daran erinnerte.
Jedenfalls geschah es in der letzten Juliwoche, als ich in dem Ausstellungsraum war und einige neue Bilder auf hing. Ein Mann betrat die Gaststätte und erkundigte sich nach mir. Es war Vincent. Er sucht nach mir und hatte mich nach etlichen Wochen endlich gefunden. Ob es Zufall, Glück oder Schicksal war, weiß ich nicht. Jedenfalls stand er mir plötzlich gegenüber. Er sagte, er würde hier bei mir bleiben oder mir an jeden anderen Ort dieser Welt folgen. Es spiele für ihn keine Rolle, so lange er nur mit mir zusammen sein könne.“ Vivianes Stimme versagte und ihre Unterlippe begann zu zittern.
Ich nahm Grandmas Hand und drückte sie fest. „Ist er derjenige, bei dem dein Zuhause ist?“
„Ich habe ihn so geliebt, wie keinen Mann zuvor. Er war der Erste in meinem Leben, dem ich mein Herz schenkte.“
Auf einmal beschlich mich das Gefühl, als würden Grandma und ich beobachtet werden. Wir waren nicht alleine und doch konnte ich niemanden sehen.
„Ist…ist er jetzt bei uns?“, fragte ich.
„Ja.“ Viviane strich sich eine Träne aus dem Gesicht. „Colby, er ist immer bei mir. Vincent hat sofort bemerkt, dass du seine Gegenwart spüren kannst. Er hat mir zudem verraten, was du für Elizabeth getan hast.“
Mein Blick streifte das Bild auf dem Tisch. Ich sah, wie sich der Mann darauf zu mir umdrehte. Schnell schaute ich zu Grandma. „Ich glaube, er möchte mir etwas zeigen.“
„Lass es zu, Colby. Glaub mir, er liebt dich genauso, wie ich es tue.“
Mein Herz schlug schneller. „Ist…ist er…“ Ich brachte die Worte kaum hervor, denn ein Teil von mir wollte noch nicht wahrhaben, was ich vermutete.
Viviane lächelte. „Vincent ist dein Großvater.“
Der Mann auf dem Bild war tatsächlich mein Großvater. Das Phantom, das meine Mum niemals kennen gelernt hatte, bekam endlich ein Gesicht. Ich spekulierte, wie viele Geheimnisse meine Grandma in ihrem Herz noch mit sich herumtrug.
„Wann ist er…“, setze ich an, entschied mich aber dafür, die Frage anders zu formulieren „War er bereits tot, als Mum geboren wurde?“
Vivianes Augen wanderten hinab zu ihren Händen, deren Finger sie ineinander verschränkt hatte. Sie schien sich bereits moralisch für die Vielzahl an Fragen gewappnet zu haben, die sie durch das Lüften der Identität meines Großvaters erwartete. Dennoch fiel ihr das Antworten sichtlich schwer.
„Vincent ist vor fünf Jahren verstorben. Er lebte im Haus, das er für seine Familie gebaut hatte.“
„Für seine Familie?“ Ich konnte Grandma nicht ganz folgen. „Ich dachte, er wollte immer mit dir zusammen sein?“
„Als ich damals nach Frankreich aufbrach, war er bereits verheiratet. Wir hatten uns ineinander verliebt, obwohl er eine Frau und eine kleine Tochter hatte.“
„Wie kann sich jemand in zwei Menschen verlieben?“, fragte ich, denn es schien für mich ein Ding der Unmöglichkeit mehr als eine Person gleichzeitig zu lieben. In Grandmas Gesicht zeichnete sich Scham ab und im selben Moment tat es mir Leid, die Frage gestellt zu haben.
„Es ist schwer zu erklären, Colby. Vincent und mich hat viel miteinander verbunden. Er war von Beruf Bildhauer und daher genauso in die Kunst vernarrt, wie ich selbst. Ich lernte ihn bei einer Ausstellung kennen. Was zwischen uns geschah, würde in Büchern als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet werden. An jenem Tag verspürte ich bereits das Gefühl, als wären wir…für einander bestimmt. Schon unser ganzes Leben lang.“
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