„Wenn ich lerne meine Fähigkeit zu kontrollieren, kann ich dann selbst entscheiden, was ich von den Dingen sehen möchte, die mir die Toten zu zeigen versuchen?“
„Wir können nicht ahnen, was wir sehen werden, Colby, aber du wirst in der Lage sein, die Anwesenheit eines Verstorbenen zu spüren, bevor du ein Bild betrachtest oder etwas zeichnest. Es liegt dann bei dir, ob du durch das Fenster schauen möchtest.“
Ich hatte noch so viele Fragen an Viviane, aber die Müdigkeit, gegen welche ich mich die ganze Zeit behauptet hatte, kam nun mit einem Schlag zurück. Ich gähnte und rieb mir mit den Daumen die Augenlider.
Grandma sah, wie sehr ich dagegen ankämpfte, einzuschlafen. „Du solltest versuchen etwas zu schlafen. Wenn der Morgen anbricht, haben wir noch genügend Zeit, um all die Dinge zu besprechen, die dich im Moment verwirren, beunruhigen oder interessieren.“
Zuerst wollte ich behaupten, dass ich sowieso nicht einschlafen könne, aber die Erschöpfung wog so schwer wie Blei und die Vorstellung in mein weiches Bett zu sinken, war viel zu verführerisch, um sich ihr länger zu widersetzen. Gemeinsam gingen Viviane und ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Ich schlüpfte in mein Bett und Grandma setzte sich an den Rand.
„Kannst du noch eine Weile hier bei mir bleiben?“, fragte ich vorsichtig. Sanft strich mir Grandma über den Kopf. „Natürlich, mein Schatz.“
Beruhigt schloss ich die Augen. Nur einen Moment später war ich bereits eingeschlafen.
Ich erwachte in meinem Zimmer zuhause und war mir sofort sicher, dass ich träumte. Pubuh lag neben mir und auf dem Nachttisch stand das Familienphoto, mit dem ich mich die letzten Monate an eine glücklichere Zeit erinnert hatte.
Ich stand auf, schlüpfte in meine Hausschuhe und lief die Treppe hinab ins Wohnzimmer. Mum, Dad und Sam saßen an dem großen Esstisch und sahen mich erwartungsvoll an.
„Setz dich, Colby, wir müssen mit dir reden“, sagte Dad mit strenger Stimme.
Ich nickte und nahm auf dem freien Stuhl Platz. Das Gefühl, ich stünde vor einem Tribunal, beschlich mich. Mein Mund fühlte sich trocken an und unter meiner Haut kribbelte es, so als befänden sich tausende von Ameisen darunter.
„Was…was habe ich gemacht?“, fragte ich nervös.
Sam verdrehte die Augen. „Gib es doch einfach zu“, keifte er.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint. Ich habe nichts getan“, beteuerte ich.
„Deine Bilder sind verflucht“, erklärte Mum. Immer wieder schaute sie abwechselnd zur Haustür und zu mir. Ihr Blick war kühl und vorwurfsvoll.
„Verflucht?“ Ich wollte nicht glauben, dass sie dies tatsächlich gerade eben zu mir gesagt hatte.
„Ja, du Dummkopf. V E R F L U C H T“, betonte Sam jeden einzelnen Buchstaben.
„Du ziehst damit die Toten an und bringst uns nichts als Unglück“, brüllte mich Dad an. Mit seiner Faust schlug er laut auf die Tischplatte.
„Grandma sagt, ich kann damit anderen helfen. Außerdem geschieht es einfach, ich kann nichts dagegen tun“, widersprach ich.
Mum stand auf. „Es wird Zeit, dass ich gehe. Ich will damit nichts zu tun haben. Niemals.“ Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, rannte sie aus dem Haus.
„Mum, bitte bleib hier!“, schrie ich ihr verzweifelt hinterher, aber sie ignorierte mein Flehen.
„V E R F L U C H T“, wiederholte Sam und konnte sich dabei ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sam und ich brauchen jemanden wie dich nicht, Colby.“ Dad klopfte Sam stolz auf den Rücken. „Du kannst froh sein, einen Bruder wie Sam zu haben. Er rettet die Ehre unserer Familie.“
„Vielleicht wäre es für alle das Beste, wenn du für immer bei Grandma bleiben würdest“, schlug Sam vor. Er und Dad verließen den Tisch, ich blieb alleine zurück.
„Meine Bilder sind verflucht“, flüsterte ich. Erstarrt saß ich an dem Tisch, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. In der glatten Tischplatte spiegelte sich mein Gesicht wieder, das ich stumm betrachtete. „Meine Bilder sind es und ich bin es auch“, fügte ich nach einer Weile mit zitternder Stimme hinzu. Die Selbsterkenntnis schmerzte.
Plötzlich stand Viviane hinter mir. Sanft berührte sie meine Schultern.
„Hör nicht auf sie“, beruhigte sie mich mit ihrer gütigen Stimme. Sie griff nach meiner Hand.
„Grandma, ich bringe nichts als Unglück“, warnte ich sie. „Du kannst mich nicht in deiner Nähe wollen.“
„Du hast eine besondere, wundervolle Gabe. Hab Vertrauen in dich, so wie ich mein Vertrauen in dich setze.“
Endlich gelang es mir, mich wieder zu bewegen. Vivianes Augen strahlten wie die Sonne. Bei ihr fühlte ich mich geborgen und sicher. „Komm, lass uns nach Hause gehen“, schlug sie vor.
„Ja, gehen wir nach Hause“, stimmte ich zu und gemeinsam traten wir durch die Haustür in ein gleißend helles Licht.
Ich erinnerte mich an Grandmas Worte, als wir am ersten Abend nach meiner Ankunft in den Korbstühlen im Garten saßen.
Manchmal ist es kein bestimmter Ort, den wir unser zuhause nennen. Manchmal ist es ein Mensch, bei dem wir uns zuhause fühlen . Dieser Mensch war Viviane nun für mich. Umso schmerzlicher war die Gewissheit, dass ich sie bald wieder verlassen musste.
Das Zentrum des Sturms war über hundert Kilometer entfernt gewesen und dennoch hatte das Unwetter beträchtliche Schäden verursacht. Im Gebiet um den See waren vor allem kleinere Bäume umgeknickt; die größeren hatten zahlreiche Äste verloren und den darunter liegenden Weg in einen Hindernisparcours verwandelt. Nervös traten Viviane und ich am Morgen aus dem Haus, um zu sehen, wie der Sturm das Grundstück zugerichtet hatte. Im Bereich vor der Veranda lagen die Splitter zerbrochener Ziegel. Etwa ein Zehntel des Daches musste neu gedeckt werden. Noch bevor wir frühstückten, half ich Viviane dabei, die Ziegelstücke zusammen zu kehren und einige Äste, die den Einfahrtsbereich des Grundstücks blockierten, zur Seite zu räumen.
Mit kritischem Blick betrachtete Grandma das Dach. „So etwas nennt sich wohl Glück im Unglück. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn wir uns im Auge des Sturms befunden hätten.“
In den Nachrichten waren Bilder von überfluteten Straßen zu sehen, auf denen die Autos wie ankerlose Boote im braunen Wasser umher trieben. Die offenen Dachstühle erweckten den Eindruck, als wäre ihre Deckung mit einem kräftigen Ruck komplett abgerissen worden. Ein spärliches Gerippe aus Holzpfosten bildete die einzigen Überreste der Dächer und erinnerte an das Ende eines Festmahls, bei dem nur noch die Knochen der verspeisten Beute übrig blieben.
Das Atelier dagegen hatte dem Unwetter getrotzt und außer ein paar durchgebrochenen Holzleisten, die nun einem wilden Mikado gleich auf dem Rasen lagen, keine Schäden genommen. Viviane lächelte erleichtert und schien die Stabilität des Schuppens kaum für möglich zu halten. „Manche Dinge sind zäher als wir glauben“, kommentierte sie den Zustand.
Die Blumenkübel und Korbstühle aus dem Garten hatte Viviane vor Beginn des Sturms in den Keller geräumt. Gemeinsamen trugen wir sie wieder nach draußen.
Das Thermometer zeigte gerade noch 15 Grad an. Die Hitze der letzten Wochen schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Die Luft war im Vergleich zur Nacht kaum wärmer geworden. Ein schwacher, eisiger Wind wehte und ich zog den Reisverschluss meiner Jacke nach oben.
Wir blickten beide zum See, dessen Oberfläche genauso grau und undurchdringlich wie die sich am Himmel auftürmende Wolkendecke war. Verglichen mit dem Tag meiner Ankunft wirkte der See nun düster und bedrohlich.
Mein Magen begann zu knurren und Grandma schlug – amüsiert über das laute Geräusch – vor, das Frühstück nachzuholen. Wir setzten uns an den Tisch in der Küche und ich aß innerhalb von zehn Minuten zwei große Scheiben Toast mit Schinken und Käse. Viviane begnügte sich mit einer Schale voll Müsli, das sie mit etwas Joghurt vermengte.
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