Über Vivianes Schultern lag eine Decke, die sie eng an ihren drahtigen Körper gezogen hatte. Sie saß auf der Couch und lud mich ein, neben sich Platz zu nehmen. Ich griff ebenfalls nach einer Decke und wickelte mich darin ein.
„Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast“, gestand Viviane. „Als du in meinem Skizzenblock etwas gezeichnet hast, kam mir bereits die Vermutung, du könntest die gleiche Gabe wie ich besitzen. Und nach unserem Erlebnis im Atelier war ich mir ganz sicher. Ich hätte dir damals gleich erklären müssen, was dir widerfahren ist, aber stattdessen wollte ich dich von jeder Gelegenheit fernhalten, bei der du erneut unabsichtlich in Kontakt mit einem Geist treten kannst. Deshalb waren wir nicht mehr gemeinsam in meinem Atelier. Ich hoffe, du verzeihst mir mein seltsames Verhalten; ich weiß, dass ich falsch reagiert habe. Es nützt nichts, die Dinge zu verschweigen, denn deine Fähigkeit zu verleugnen, bedeutet dich selbst zu verleugnen.“
Ich konzentrierte mich auf das Licht einer großen Bienenwachskerze, die vor uns auf einem kleinen Holztisch brannte und ließ Grandmas Worte auf mich wirken. „Woher wissen die Verstorbenen, dass wir sie verstehen können?“ Die Frage klang so unwirklich, das ich einen Moment darüber nachdenken musste, ob ich sie gerade eben tatsächlich gestellt hatte.
„Du musst wissen, dass nicht alle Verstorbenen hier sind. Nur die Seelen derjenigen Toten, die noch etwas erledigen müssen – jene, die noch keinen Frieden gefunden haben – halten sich in dieser Welt auf. Sie warten buchstäblich auf Menschen wie uns Colby und ich nehme an, dass sie uns auf irgendeine Weise erkennen. Aber eigentlich geschieht der Kontakt in einer anderen Form.“ Während Grandma sprach, sah auch sie in das Licht der Kerze auf dem Tisch.
„Die Verstorbenen brauchen uns nicht zu suchen, denn es ist umgekehrt – wir finden sie. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass, sobald du ein Bild betrachtest, du das Gefühl verspürst, hinter der Farbe, dem Muster und den Linien könnte sich weitaus mehr verbergen, als die Zeichnung oder das Gemälde zunächst verraten lässt?“
„Ja“, sagte ich mehr zu mir selbst, als auf Grandmas Frage zu antworten. Das Gefühl, das Viviane beschrieb, wurde mir zu Teil, während ich mir die Kunstdrucke auf dem Wochenmarkt angesehen hatte.
„Bilder sind wie geheime Fenster. Kaum jemand erkennt sie, aber du, Colby, kannst durch sie hindurchblicken und die Dinge sehen, die den Toten widerfahren sind und die sie ruhelos in unserer Welt halten.“
„Aber warum wollen die Toten, dass ich erfahre, was mit ihnen passiert ist?“
„Sie bitten uns dadurch um Hilfe. Was sie auch hier festhält, gewährt ihnen keinen Frieden. Und darum brauchen sie uns.“
„Ich kann das nicht“, wehrte ich mich „Ich kann niemandem helfen.“ Wie mit eisigen Fingern erfasste die Angst mein Herz und ließ mich zittern. „Ich…ich möchte wieder zeichnen können, ohne dass ich einem Toten begegne. Ich fürchte mich vor ihnen.“ Sofort dachte ich an das Mädchen, welches mir in meiner Vision im See begegnet war. Sie hatte mich unter Wasser gezogen und beinahe wäre ich ertrunken. Der Schmerz in meiner Lunge war so real gewesen, dass ich verzweifelt nach Luft gerungen hatte.
Viviane strich mir durch mein Haar. „Deine Angst ist völlig normal. Ich empfand damals genau die gleiche Furcht und verdrängte, dass mein Vater die Wahrheit sprach. Aber diese Fähigkeit ist eine Gabe. Ich kann dir zeigen, wie du sie kontrollieren kannst und dann wirst du sehen, dass du in der Lage bist, damit den Verstorbenen und auch den Lebenden zu helfen.“
„Niemand wird mir glauben. Dad und Sam halten mich jetzt schon für verrückt, auch ohne diese Geistergeschichte. Ich will meine Fähigkeit nicht.“
„Colby, deine Gabe hat es dir ermöglicht, Elizabeths Armband wieder zu finden. Du kannst anderen helfen. Hab Vertrauen zu dir selbst.“
Als Grandma ihren Namen aussprach, sah ich Elizabeths strahlende Augen vor mir. Sie war so glücklich darüber, ihr Armband nicht für immer verloren zu haben. Ohne die Vision, so wusste ich, hätten wir es niemals gefunden.
„Ich habe ihr helfen können“, stimmte ich zu. Viviane lächelte und ich sah, dass eine kleine Träne an ihrer Wange herabsank.
„Ich bin sehr stolz auf dich, Colby. Obwohl du nicht wusstest, was mit dir passiert, hast du dennoch auf deine innere Stimme gehört. Du bist ein guter Junge und dieser Gabe würdig.“
„Ich brauche keine Angst davor zu haben?“
Für den Bruchteil einer Sekunde wich Viviane meinem fragenden Blick aus. Vermutlich hatte sie es selbst gar nicht bemerkt, aber ich sah, dass sie zögerte.
„Nein. Und ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst.“
Die Anspannung in meinem Körper ließ für einen Augenblick nach. Doch dann wurde mir plötzlich etwas anderes bewusst. Viviane bemerkte meinem betroffenen Gesichtsausdruck sofort.
„Was quält dich, Colby? Ich werde dir jede Frage beantworten. Hab etwas Mut und stell sie.“
„Elizabeths Vater…“, begann ich vorsichtig. Ich wollte es nicht aussprechen und doch musste ich die Worte laut hören, um Gewissheit zu erlangen „…ist er tot?“
Viviane zog ihre Decke dichter an sich. Sie atmete tief durch, so als müsse sie eine schwere Last hunderte von Meilen tragen.
„Elizabeths Vater war bei der Armee. Er befand sich auf einem Einsatz in Nordafrika. Vor etwa einem Monat verschwand seine Einheit spurlos. Die Regierung und auch Elizabeths Mum Veronica glauben nach wie vor, dass die Männer am Leben sind. Das weiß ich aus der Presse und von Veronica selbst.“
„Aber die Wahrheit hat dir Elizabeths Vater gezeigt. Und darum hast du das Bild von Elizabeths Mum gemalt“, führte ich Vivianes Schilderung selbst zu Ende.
„Ja, er bat mich darum, ihr zu erklären, dass er nicht wiederkommen kann und sie ihr Leben ohne ihn weiterführen muss. Er liebt seine Familie sehr und möchte, dass sie trotz seines Todes wieder glücklich wird.“
„Hast du versucht, mit Veronica zu sprechen?“, wollte ich wissen, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
Grandmas Gesicht war auf einmal von unzähligen Sorgenfalten gezeichnet, die sie im Schein der Kerzen wie eine dem Tod geweihte Greisin aussehen ließen.
„So lange die Regierung Veronica nicht bestätigt, dass ihr Mann tot ist, wird sie ihn nicht aufgeben. Den Erzählungen einer alten Frau wie ich es bin, kann sie unmöglich Glauben schenken. Ich habe probiert, mich ihr auf behutsame Weise zu nähern und den Wunsch von Ron, Elizabeths Vater, zu erfüllen. Im Moment kann ich nichts tun. Jedes weitere Wort würde alles noch schlimmer machen.“
Auf einmal ergab Veronicas merkwürdiges Verhalten für mich einen Sinn, besonders ihre Reaktion, als sie erfuhr, dass ich bei Grandma lebte.
„Behandeln dich die Menschen immer so, wenn du ihnen im Auftrag eines Verstorbenen etwas mitteilen musst?“, fragte ich betroffen.
„Für die Angehörigen ist der Tod stets eine schmerzliche Sache. Ablehnung ist daher leider eine häufige Resonanz, aber sie ist verständlich. Du musst es dir so vorstellen: Eine Fremde taucht auf und erklärt, der Geist eines geliebten Menschen habe eine Botschaft hinterlassen. Sei ehrlich, würdest du mir gleich ohne weiteres dein Vertrauen schenken?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Zudem gibt es genügend Scharlatane, die behaupten, sie stünden in Kontakt zu den Toten. Dabei sind sie nur auf das Geld der Hinterbliebenen aus.“
„Warum…warum versucht du ihnen trotzdem zu helfen?“ Die Vorstellung, den Hass und die Ablehnung anderer auf mich zu ziehen, ließ jene Stimme in meinem Unterbewusstsein, die sagte Ich will diese Fähigkeit nicht, lauter als zuvor erklingen.
Grandma schien meine Gedanken zu erahnen und bemühte sich um ein sanftes Lächeln. „Jeder Einzelne, dem ich helfen konnte, war all die Mühe wert. Zu erleben, wie viel Freude du erschaffen kannst und wie die Ruhelosen endlich ihren Frieden finden, ist das größte Glück, das dir selbst widerfahren kann.“ Vivianes Augen begannen regelrecht zu schimmern. Das Bild der sorgenvollen Greisin wich dem Ausdruck einer tiefen Entschlossenheit. Plötzlich strahlte Grandma eine unglaubliche Stärke aus, bereit sich allen Herausforderungen und Ängsten zu stellen, denen sie sich durch unserer Gabe anzunehmen verpflichtet fühlte.
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