„Hast du mit diesem Geist schon Kontakt aufnehmen können?“
Viviane schüttelte den Kopf. „Ich spüre nicht einmal seine Gegenwart. Es ist, als würde er sich absichtlich vor mir verstecken.“
„Was passiert, wenn wir ihm nicht helfen können und er wütend wird?“
An Vivianes Miene konnte ich ablesen, dass sie mir nur ungern eine Antwort geben wollte.
„Bitte Grandma, sag es mir.“
„Normalerweise können Menschen die Anwesenheit eines Geistes nicht wahrnehmen. Die Präsenz ist so dünn, das sie nicht spürbar ist. Selbst wenn ein Geist großen Zorn empfindet, ändert sich dies nicht. Jemand ohne unsere Gabe würde ihn nicht bemerken. Aber die Wut, die den Geist erfüllt, kann sich auf die Lebenden übertragen. Es ist vergleichbar mit einem Raum, in dem der Sauerstoff knapp wird. Irgendwann ringen wir nach frischer Luft, weil wir nicht anders können. Und so ist es auch mit dem Zorn. Irgendwann beeinflusst er die Gefühle von Personen so stark, bis sie selbst die gleiche Wut empfinden und sich nicht mehr dagegen wehren können.“
Obwohl es Viviane nicht aussprach, konnte ich mir vorstellen, was passieren würde, wenn sich jemand durch seinen Zorn leiten lässt. Und ich hoffte inständig, dass es nicht so weit kommen würde.
Sam starrt gedankenverloren auf einen Teller Suppe. Ich sitze ihm gegenüber und erzähle ihm belanglose Neuigkeiten; regionale Nachrichten aus der Tageszeitung ohne Bedeutung. Es ist besser als sich in Schweigen zu hüllen, denn die Stille in diesen Räumen ist qualvoll. Unerträglich.
Neben uns brennt eine Tischlampe und wirft ihr gelbes Licht durch das sonst dunkle Zimmer. Wie immer trägt Sam seinen Morgenmantel, ein T-Shirt und eine Pyjamahose. Sein Haar fällt ihm tief ins Gesicht und versteckt seine Augen.
Im Vergleich zu meinem letzten Besuch ist er sehr ruhig. Sein behandelnder Arzt, Dr. Ray Isherwood, hat mir erklärt, dass sie die Zusammensetzung der Medikamente verändern mussten. Nach dem Vorfall im Gemeinschaftsraum sei Sam emotional sehr aufgebracht gewesen und mehrfach handgreiflich geworden. Ihnen blieb keine andere Wahl als ihn ruhig zu stellen, denn Sam sei nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst eine Gefahr.
„Heiß“, ruft er plötzlich und zieht seinen Zeigefinger aus der Suppe heraus. Er streckt ihn mir demonstrativ entgegen und verzieht sein Gesicht.
„Die Suppe wird dir schmecken. Komm, probier sie.“ Ich nehme einen Löffel, tauche ihn in den Teller und führe ihn an Sams Mund.
„Sie ist lecker“, stimmt er mir zu. Ich gebe ihm den Löffel und er isst die Suppe alleine auf.
Als der Teller leer ist, schiebt er ihn beiseite und streicht sich gesättigt über den Bauch.
.„Ich bin müde. Sehr müde“, gesteht Sam einen Augenblick später und gähnt.
„Möchtest du schlafen gehen?“, frage ich und er nickt zustimmend.
Ich helfe ihm in seine Schlafsachen – ein T-Shirt seiner Baseballmannschaft aus Collegetagen und ein paar Shorts – zu schlüpfen und reiche ihm die Zahnbürste. Sam macht keine Anstalten sich gegen irgendetwas zu wehren. Er wirkt wie eine Marionette ohne eigenen Willen, gefügig, jedes Kommando entgegen zu nehmen. Ich weiß, dass die Medikamente dafür verantwortlich sind und dass Sam vermutlich ohne sie ständig durchdrehen würde. Aber dennoch behagt mir die Vorstellung nicht, dass sein ganzes Empfinden derart blockiert wird. Ich stehe hier vor meinem Bruder und habe dennoch das Gefühl, als würde ich einem Roboter, der ihm zu verwechseln ähnlich sieht, Befehle erteilen.
Mit Dr. Isherwood habe ich schon einmal darüber gesprochen. Er hält die derzeitige Behandlung , oder wie man das Ruhigstellen meines Bruders auch nennen mag, für den einzig richtigen Weg. Was soll ich also der Diagnose und Einschätzung eines erfahrenen Mediziners entgegensetzen?
Sam legt sich in sein Bett und ich decke ihn zu.
„Gehst du?“, fragt er mich, während ich meine Jacke vom Stuhl nehme.
„Die Besuchszeit ist gleich zu Ende. Aber ich komme bald wieder.“
Fast glaube ich, auf Sams Gesicht ein Lächeln zu sehen, so als würde er sich über meine Anwesenheit und mein Versprechen freuen. Dann fallen seine Augen zu und er scheint bereits eingeschlafen zu sein. Ich setze mich einen Moment zu ihm ans Bett und streiche ihm über den Kopf.
Auch wenn ich mich daran gewöhnt habe sollte, dass Sam vermutlich den Rest seines Lebens in den Räumen dieser Anstalt verbringen wird, zerreist mir die Gewissheit darüber beinahe das Herz. Den erfolgreichen Sportler gebrochen und am Rande des Wahnsinns zu sehen, ist ein qualvoller Anblick. Sams Träume sind zerstört. Er wird nie wieder auf dem Spielfeld stehen, nie wieder einen Schläger schwingen und das Jubeln der Zuschauer hören.
„Machs gut“, flüstere ich und schleiche mich leise zur Tür. Auf halbem Weg schalte ich die Lampe aus. Blasse Streifen aus Mondlicht dringen durch das große Fenster und spinnen ein wildes Muster auf dem Fußboden.
„Wann kommt Dad mich besuchen?“, höre ich Sams Stimme unsicher durch das Dunkel fragen. Den Türgriff in der rechten Hand, bleibe ich stehen. Meine Lippen zittern kurz und ich weiß, dass mir einen Moment die Stimme fehlt, um antworten zu können.
Dad wird niemals hierher kommen. Er denkt, seinen geliebten Sohn verloren zu haben und klammert sich deshalb an ein Leben, in dem noch alles intakt war. Dad ist genauso ein Gefangener seiner selbst, wie du es bist, Sam.
„Hab noch etwas Geduld“, sage ich und schäme mich augenblicklich, meinen Bruder derart belügen zu müssen.
Sachte schließe ich die Tür hinter mir zu und lehne mich gegen das Holz. Ich atme tief durch, sauge die steril riechende Luft regelrecht in mich ein.
Sam und ich haben uns nie gut verstanden. Wir waren einfach zu verschieden. Als wir auf die gleiche Highschool gingen, hat er mich stets ignoriert. An meinem ersten Schultag hat er sogar vor seinen Freunden geleugnet, mich zu kennen. Die Ironie an der ganzen Sache ist, dass ich nun der einzige bin, der sich um ihn kümmert und wir uns besser verstehen, seit er in die Anstalt eingewiesen wurde. Tief in mir hasse ich mich für diesen Gedanken, denn ich würde alles dafür geben, wenn Sam wieder zu dem Sportler zurück findet, der seinen kleinen Bruder nicht leiden konnte.
Ich laufe den Gang entlang zu den Fahrstühlen. Weder ein Patient oder Krankenpfleger noch ein anderer Besucher begegnen mir. Im Schwestern-zimmer hinter dem Empfangstresen brennt Licht und durch die herabgelassenen Jalousien entdecke ich Ashley. Ich klopfe an der offen stehenden Tür an.
Ashley sitzt alleine an einem Tisch. Vor sich hat sie acht Teelichter angezündet und einen kleinen Kuchen auf einem Teller angerichtet. In ihren Händen hält sie ein Photo.
Durch das Klopfgeräusch fährt sie überrascht herum. Ihre Augen sind rot und an den Wangen kleben dicke Tränen.
„Oh…Entschuldigung“, ist das Erste, was ich hervorbringe.
„Nein nein, schon in Ordnung, Colby.“ Schnell wischt sich Ashley mit dem Rücken ihrer rechten Hand über die Augen.
„Sam war in den letzten Tagen sehr ruhig.“ Sie versucht zu lächeln.
„Ist alles…in Ordnung?“, frage ich vorsichtig, obwohl ich eindeutig sehe, dass es ihr nicht gut geht.
„Es…es…“, beginnt sie und ich merke, dass sie hin- und her gerissen ist zwischen der Wahrheit und einer unehrlicheren, distanzierten Antwort, wie sie Fremde oder flüchtige Bekannte für gewöhnlich erhalten.
„Ich hätte nicht fragen dürfen. Verzeihung“, versuche ich ihr aus der Zwickmühle, in die ich sie gebracht habe, zu helfen.
„Vielleicht möchten Sie sich einen Moment zu mir setzen?“, fragt sie und deutet auf einen der freien Stühle am Tisch.
„Natürlich“, sage ich und setze mich neben sie.
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