Ashley schiebt das Photo zwischen uns. Es zeigt ein kleines Mädchen, vermutlich vier oder fünf Jahre alt. Sie sitzt auf einer Schaukel und lacht fröhlich in die Kamera. Das Mädchen sieht Ashley wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Das ist meine Tochter Leila“, verrät Ashley. „Sie wäre heute acht Jahre alt.“
Mein Blick wandert kurz zu den Teelichtern und dem Kuchen.
„Normalerweise habe ich an diesem Tag frei, aber meine Kollegin wurde kurzfristig krank. Deshalb sitze ich nun hier und…“ Ashleys Unterlippe zittert, während sich neue Tränen den Weg über ihr Gesicht bahnen.
„Happy Birthday, Leila“, sage ich mit sanfter Stimme und lege meine Hand auf Ashleys Schulter.
„Happy Birthday“, wiederholt Ashley. Sie nimmt ein Messer und schneidet den Kuchen an. „Möchten Sie ein Stück?“
„Sehr gerne.“ Wie könnte ich jetzt ablehnen? Ashley reicht mir einen Teller und wir nehmen beide ein paar Bissen des Kuchens.
„Etwas fehlt noch“, fällt Ashley plötzlich auf. Sie läuft hinüber zu ihrem Spind und holt aus ihrer Tasche ein Stück Papier hervor, mit dem sie sich wieder an den Tisch setzt.
„Das war das letzte Bild, das Leila gemalt hat. Ich habe es immer bei mir, wie eine Art Talisman.“
Auf dem Papier ist ein großes Haus zu sehen. Vor der Haustüre steht ein Frau – vermutlich Ashley – und hält ein kleines Mädchen, von dem ich annehme, dass es Leila selbst ist, an ihrer Hand. Am Himmel sind eine strahlende Sonne und gekringelte Wolken zu sehen. Große, bunte Schmetterlinge ziehen an Ashley und Leila vorbei und landen in dem Garten neben dem Haus, der erfüllt von zahlreichen Gänseblümchen ist.
Ich werfe nur einen kurzen Blick darauf, denn sofort beginnen die Farben zu verwischen. Wenn ich mich konzentriere, kann ich die Anwesenheit eines Geistes spüren. Ohne Zweifel ist es Leila. Sie will mir ein Fenster öffnen und dadurch etwas mitteilen, vermutlich eine Botschaft für Ashley.
Ich starre auf meinen Teller und nehme einen weiteren Bissen des Kuchens.
„Ich denke jeden Tag an sie, an die schönen Jahre, die ich mit ihr teilen durfte. Nur heute und an ihrem Todestag übermannt mich die Gewissheit, sie nie wieder lachen zu sehen, nie wieder ihre helle, warme Stimme zu hören, nie wieder mit ihr gemeinsam durch den Park zu spazieren.“
Aus einem Impuls heraus möchte ich fragen, was Ashley dazu sagen würde, wenn Leilas Geist ihr noch etwas mitteilen möchte. Doch dann ermahne ich mich selbst dazu, von der Vorstellung, durch meine Gabe jemandem helfen zu können, Abstand zu nehmen.
„Eines Tages werdet Ihr euch wieder sehen, da bin ich mir sicher“, antworte ich und denke dabei an Grandma und die Hoffnung, die sie vielen Trauernden schenken konnte.
„Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt“, sagt Ashley. Ihre Stimme wirkt nun wieder etwas gefasster.
Wir bleiben noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen und schauen dem Spiel der kleinen Flammen zu, die sich sachte in der Luft wiegen.
„Sam hat sich entschuldigt“, gesteht Ashley und ich sehe sie überrascht an. „Es tut ihm Leid, dass er Sie dazu gezwungen hat, das Bild im Gemeinschaftsraum anzuschauen. Er hatte Angst, dass Sie ihn nicht mehr besuchen werden.“
„Ich kann ihn nicht im Stich lassen, so etwas würde ich mir nicht verzeihen. Es geht ihm schon schlecht genug. Durch die neuen Medikamente habe ich das Gefühl, ich würde ihn völlig…verlieren. Seine Persönlichkeit scheint beinahe ausgelöscht.“
Ashley nimmt meine Hand und drückt sie fest. „Ich…wir müssen uns an die Anweisungen der Ärzte halten. Als Sam herkam, war er...außer sich. Sie haben das Richtige getan, daran dürfen Sie nicht zweifeln.“
„Aber was ist, wenn ich ihn zuhause bei mir pflegen würde?“
„Colby, Sie wissen, dass dies nicht möglich ist.“
Ich besinne mich darauf, wie Recht Ashley hat. Ohne die medizinische Betreuung wäre Sam vermutlich schon tot.
Ein Läuten ertönt in dem Zimmer und Ashley sieht sofort auf ein Pult in der Nähe der Tür, auf dem eine der zahlreichen Dioden zu blinken begonnen hat. „Einer der Patienten braucht Hilfe. Ich muss zu ihm.“ Eilig steht sie auf, dreht sich an der Tür aber noch einmal zu mir um.
„Danke.“ Ein schüchternes Lächeln, dann ist Ashley verschwunden.
Ich betrachte noch einmal das Bild auf dem Tisch
„Ich weiß, dass du eine Botschaft für deine Mum hast. Aber glaub mir, du musst weiterziehen“, flüstere ich. Natürlich lässt sich ein Geist von meinem Ratschlag nicht beeindrucken, doch kann ich nicht mehr tun, als diesen auszusprechen.
Ich kann dem Mädchen nicht helfen, genauso wenig wie ich Sam, Dad oder Elizabeth beschützen konnte.
Ich stehe seit etwa zwanzig Minuten vor der Eingangstür zum Nomansland und schaffe es nicht hineinzugehen, fast als würde mich eine unsichtbare Barriere davon abhalten, den Türgriff in die Hand zu nehmen. Während ich vor dem Eingang herumstreiche, beobachtet mich ein anderer Besucher der Kneipe mit misstrauischem Blick. Vielleicht glaubt er, dass ich ein kaltblütiger Killer bin, der auf der Suche nach seinem nächsten Opfer durch die nächtlichen Gassen streift und sich dann irgendwo im Schutz der Dunkelheit auf die Lauer legt.
Ein älterer Mann gesellt sich zu ihm hinzu und sie verschwinden durch den Eingang. Für einen kurzen Augenblick kann ich in das Nomansland hineinsehen und entdecke Peyton, wie sie an ihrem Stammplatz sitzt und in ein Buch vertieft ist. Ob sie wohl auf mich wartet? Wie ernst kann ich ihre Einladung nehmen? Doch was mich am meisten beschäftigt, ist die Frage, weshalb sie sich mit mir abgeben möchte. Ich will mich nicht selbst bemitleiden oder unter Wert verkaufen, aber ich habe nicht das Aussehen eines Hollywoodstars, durch das ich auf sie faszinierend wirken könnte. Ich zähle wohl eher in die Kategorie Durchschnittstyp.
Glaubt sie tatsächlich, uns beide würde etwas verbinden? Immerhin kennt sie mich nicht. Sie weiß nichts über mich oder meine inneren Dämonen, die ich zu bekämpfen nicht fähig bin. Genauso ist sie für mich eine Unbekannte. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie diese auch bleiben möchte, wüsste sie über den ganzen emotionalen Ballast, den ich mit mir herumtrage, Bescheid.
Weitere zehn Minuten verstreichen, bis ich mir selbst endlich einen Ruck gebe und mit eiligen Schritten das Nomansland betrete. Zuerst möchte ich so tun, als hätte ich sie nicht gesehen und mich an einen freien Stuhl an der Theke setzen. Aber da ich mich bereits zu genüge dämlich verhalten habe, bleibe ich direkt vor ihrem Tisch stehen und mache mich durch ein kurzes „Hey“ bemerkbar.
Peyton sieht von ihrem Buch auf und lächelt mich an. „Da bist du ja.“ Sie scheint sich wirklich zu freuen, mich zu sehen.
„Ich hatte noch einen Termin“, flunkere ich notgedrungen über mein spätes Erscheinen.
„Schon okay, wir haben schließlich keine Uhrzeit vereinbart.“
Ich nicke und schiebe die Hände nervös in meine Hosentaschen.
„Magst du dich nicht setzen?“, fragt sie und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Glücklicherweise ist die Kneipe schwach beleuchtet, so dass es Peyton nicht auffallen wird. Ich ziehe meine Jacke aus, hänge sie an die Stuhllehne und setze mich.
Peyton klappt ihr Buch zu und verstaut es in ihrer Tragetasche. „Du arbeitest also bei Fresh Food Daily“, erinnert sie mich an unsere letzte Begegnung.
„Ja, ich bin der Fachmann für alle Fragen rund um das Thema Konserven“, erwidere ich und bringe sie damit zum Lachen. In meinem Bauch beginnt es seltsam zu kribbeln und obwohl oder gerade weil Peyton nett ist, werde ich nervös. Ein belangloser Plausch oder gar Flirten sind nicht gerade die Disziplinen, in denen ich glänze.
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