„Aufsitzen, es geht weiter!“ Kalle steigt in den Van und startet den Motor. „Der Braumeister wartet, wird`s bald!“
Die letzten Kilometer bis nach Losheim verlaufen auf gerader und ebener Strecke. Sogar die angefangenen halbvollen Bierflaschen bleiben von selbst auf dem Tisch stehen. Der Bierkasten ist weit über halb leer, als die Gruppe in Losheim eintrifft. Alle sehen noch verhältnismäßig frisch aus, bis auf Manni, der wohl die Pinkelpause zum Anlass nahm, hinter den Büschen noch ein wenig an seinem Flachmann zu saugen.
Kalle lenkt das Fahrzeug auf den Parkplatz der privaten Brauerei und betrachtet sich ein letztes Mal im Spiegel. „Alles okay“, denkt er. „Dann lassen wir doch mal alles auf uns zukommen.“
Und so wird es, wie geplant, ein feuchtfröhlicher Abend. Das Bier der Brauerei ist frisch und läuft, ohne anzuecken, durch die Kehlen der geübten Gastronomen. Kein Wunder, denn eine Schweinshaxe vorneweg hat für eine solide Unterlage gesorgt. Die Bedienungen in ihren Dirndln und der prallen Oberweite haben es insbesondere Kalle angetan. Aber außer Bedienen ist da nichts drin. Als er einer der prallen Damen an den Hintern greift, kommt es fast zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit dem männlichen Personal.
Manni ist es, der gegen neun Uhr an diesem Abend auf die Idee kommt, noch eine Gaststätte im Ort aufzusuchen. „Ist doch vielleicht gemütlicher als hier in diesem Trubel“, meint er. „Vielleicht können wir in der Stadt was aufreißen. Zurück hierher können wir doch noch immer.“
Eine Abwechslung kommt auch den anderen gerade recht. Und „Aufreißen“, das ist es eigentlich, was alle wollen. Schließlich ist das hier eine Männertour.
Unterwegs ist der Druck auf die Blase dann doch so groß, dass Kalle das Gefährt erst einmal auf einem kleinen freien Platz, neben dem Radweg, rund zwei Kilometer von der Stadt entfernt abstellt und alle in Reih und Glied die Bäume düngen.
„Ich glaube, das wird nichts mehr heute Abend!“ brummt Maathes vor sich hin. „Wo sollen wir jetzt noch ein paar Weiber herbekommen?“
„Alter Schwarzseher!“ Diese beiden Worte von Kalle klingen vorwurfsvoll, so als hege er keinen Zweifel daran, heute noch zum Schuss zu kommen. „Wenn in Losheim nichts los ist, fahren wir halt weiter, nach Merzig oder Schmelz, wir werden sehen!“
Aus der Ferne kommt ein Lichtschein auf die Männer zu und sie können erkennen, dass es sich um eine Radfahrerin handelt, die, obwohl es für die Jahreszeit noch ausreichend hell ist, bereits den Dynamo auf den Vorderreifen gelegt hat.
Die Männer schauen sich ohne Worte an und stellen sich mitten auf den Gehweg, so dass die Radfahrerin keine Möglichkeit sieht, als ihr Rad anzuhalten. Auf der einen Seite des Radweges hindert sie das Gebüsch am Weiterfahren, auf der anderen Seite der Van von Kalle.
Die junge Frau sieht die Männer fragend an.
„Dürfte ich bitte weiterfahren? Ich habe es eilig. Seien Sie so nett!“
„Männer wie wir sind immer nett.“ Kalle drängt sich in den Vordergrund und nähert sich der Frau. „Wollen Sie einen Schluck mit uns trinken? Auf den schönen Sommer, auf den lauen Sommerabend?“
„Bitte, lassen Sie mich durch!“, fleht die junge Frau, die Kalle auf Anfang Zwanzig schätzt.
Durch den Auftritt von Kalle bestärkt, kommen auch die anderen und bilden einen Kreis um das Mädchen, das breitbeinig dasteht, ein Bein auf dieser, das andere auf jener Seite des Damenrades. Ihr seidenartiges Trägerkleid fällt locker bis knapp über die Knie, Strümpfe trägt sie keine, lediglich weiße dünne Socken in den halbhohen Turnschuhen. Das Kleid ist von oben bis unten mit Knöpfen versehen, die bis zum Hals geschlossen sind. Die junge und schlanke Figur drückt sich in jugendlicher Unschuld durch das eng anliegende Kleidungsstück.
Kalle betrachtet die junge Frau von oben bis unten und sieht triumphierend seine Kollegen an. „Ist sie nicht süß? Und so außer Atem von der Anstrengung!“
Tatsächlich ist die Frau vom Radfahren erhitzt. Ihr Atem geht schnell und die Aufregung tut ihres dazu, dass es auch nach diesem Stopp so bleibt.
Die junge Frau nimmt alle ihre Kraft zusammen und sagt mit bestimmtem Tonfall: „Bitte, lassen Sie mich weiterfahren!“
„Kuck mal, die Kleine!“, meldet sich jetzt auch Manni Reuter, bestärkt durch das Verhalten von Kalle, das nun auch die anderen erreicht. „Sie soll uns doch etwas Gesellschaft leisten!“
„Ja, soll sie!“, sagt jetzt auch Nob Nörtinger, obwohl es ihm lieber wäre, man würde die Frau in Ruhe lassen und stattdessen weiter nach Lebach oder Merzig fahren. Aber er will sich solidarisch verhalten. „Einer für alle, alle für einen!“, hat Karl immer gesagt. So soll es auch sein!
„Henri, so ruhig?“ Kalle sieht aus den Augenwinkeln zu Leyenhofer, der als einziger noch keine Regung zeigt.
„Alles in Ordnung, Kalle. Die Frau soll mit uns im Wagen noch etwas trinken. Ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“ Damit hat er seine Schuldigkeit getan, hat auch etwas zu der Situation beigetragen.
„Also, junge Frau, auf ein Gläschen!“ Kalle macht eine einladende Handbewegung in Richtung des Van und fasst die Frau am Arm.
„Lassen Sie mich los oder ich schreie!“
„Ach, die Dame will schreien? Wer soll ihr denn zuhören? Sie trinken jetzt ein Glas mit uns, dann können Sie weiterfahren!“, sagt Kalle und seine Stimme hat sich dabei verfinstert. Er drängt, gefolgt von seinen Kollegen, die ein gemeinsames Schäferstündchen immer näherkommen sehen, Frau und Fahrrad in Richtung des Fahrzeuges.
„Hilfe! Hilf…!“ Weiter kommt die junge Frau nicht, denn Kalle hält ihr den Mund zu und zieht sie mit Gewalt zur Fahrzeugtür, die Manni bereits geöffnet hat. Es ist eine Schiebetür, die ausreichend Platz bietet, um mehrere Personen gleichzeitig einsteigen zu lassen. Maathes hat das Fahrrad gepackt und es der Frau entwunden. Er stellt es hinter dem Van ab und während seine Kollegen die wimmernde Frau in das Fahrzeuginnere zerren, deckt er das vordere Kennzeichen mit herumliegenden Ästen ab. Dann eilt auch er zu der Schiebetür, steigt ein und verschließt die Tür hinter sich.
Was sich im Inneren des Van abspielt, könnte nicht einmal ein vorbeikommender Fußgänger erahnen, denn die Frau hat sich inzwischen in ihr Schicksal ergeben. „Lieber Gott, gib mir Kraft!“, betet sie zwischen den groben Stößen der Peiniger, die sie, einer nach dem anderen, besteigen. „Verzeih Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Drei Tage nach diesem Vorfall findet man eine junge Frau auf den Gleisen der Bahnlinie von Losheim nach Merzig, am Ortsende von Losheim, zerschmettert von einem ICE, dessen Führer nach dem Aufschlag psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss. Der Fall wird nach Abschluss der Ermittlungen zu den Akten gelegt. Suizid, kein Fremdverschulden erkennbar, heißt es im Abschlussbericht der Saarbrücker Kriminalpolizei. Es ist keine Seltenheit, dass der Freitod auf den Schienen der Bundesbahn gesucht wird. Es ist ein schneller Tod, der aber dem Leichenbestatter alle Mühen abverlangt, die Leichenteile fein säuberlich aufzulesen und sie mit den Plastiktüten im Blechsarg zu verstauen.
Auch die bis zur Unkenntlichkeit deformierte Leiche der jungen Frau verlangt den Dienern des Todes diese Arbeit ab. Wohin sie die Rechnung dafür senden, das wissen sie inzwischen. Celine Raphael hieß das junge Ding, war gerade mal zwanzig Jahre alt und wollte Nonne werden. Die Ermittlungen bei den Angehörigen ergeben, dass Celine Raphael sich zu Gott berufen fühlte und ihre Entscheidung der Familie bereits mitgeteilt hatte.
Der Grund für den plötzlichen Freitod der jungen angehenden Ordensfrau beschert ihrem Heimatort allen Grund für Spekulationen. Ein Abschiedsbrief existiert nicht. Jedenfalls hat niemand, weder die Polizei, noch die Angehörigen, so wurde es jedenfalls behauptet, einen solchen gefunden oder gesehen.
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